Christoph Geiser

Christoph Geiser, geboren 1949 in Basel. Er studierte Soziologie, war journalistisch tätig und arbeitet als freiberuflicher Schriftsteller. Für seine Werke wurde er vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Schweizer Literaturpreis 2020. Er lebt in Bern und Berlin. (2020)
Werke (Auswahl)
Verfehlte Orte.
Secession Verlag für Literatur GmbH, 2019
Da bewegt sich nichts mehr.
Die Lunte, 2016
Schöne Bescherung. Kein Familienroman.
Offizin, 2013
Wenn der Mann im Mond erwacht: Ein Regelverstoß.
Ammann Verlag, 2008
Über Wasser : Passagen. Meridiane.
Ammann Verlag, 2003
Die Baumeister. Eine Fiktion.
Verlag Nagel & Kimche AG, 1998
Kahn, Knaben, schnelle Fahrt.
Verlag Nagel & Kimche AG, 1995
Das Gefängnis der Wünsche.
Verlag Nagel & Kimche AG, 1992
Das geheime Fieber.
Verlag Nagel & Kimche AG, 1987
Wüstenfahrt.
Verlag Nagel & Kimche AG, 1984
Hier steht alles unter Denkmalschutz.
Lenos Verlag, 1972
Verfehlte Orte
Secession Verlag für Literatur GmbH, 2019
Die 42. Solothurner Literaturtage fanden aufgrund der Corona-Pandemie online satt.
Berichte von Tatorten, Totenorten, Unorten und von Orten der Erinnerung fügen sich in diesen Erzählungen zur Landschaft eines sprachgewaltigen Erzählers zusammen, der gegen Vergessen und Vereinfachung anschreibt. Präzis, manchmal selbstironisch, in jedem Fall kompromisslos nähert sich Geiser literarisch dem Unfassbaren, in Berlin, Darmstadt, Venedig und im Rupperswil der berüchtigten Morde. Die Suche ist sein Programm, das minutiöse Abschreiten des Weges sein Ziel.
Aus: Christoph Geiser. Verfehlte Orte. Secession Verlag für Literatur GmbH, 2019
Nicht einmal das Auge Gottes, das säumige, sähe, was wir tun. Und so wäre dieses urzeitliche Treiben kein Diskurs, sondern unsagbar oder unsäglich? Denn nur der Neandertaler könnt’ es sagen? Mit den Händen, die wir grad noch sehen können, bevor uns alle Sinne schwinden, sich uns das Bewusstsein trübt, offene rote Hände an der dunklen Wand der Zeit, die Finger weit gespreizt, wie Hilfe suchend, Rettung vorm Ertrinken, Rettung vorm Verschwinden, vorm Wegsinken in die Vergessenheit…
Do, 14.05.20
Sa, 23.05.20, 15:00
Schöne Bescherung. Kein Familienroman
Offizin, 2013
Der Roman nimmt den Erzählstrang wieder auf, den Christoph Geiser in seinen Familiengeschichten vor über dreissig Jahren verlassen hat: Die Mutter des Erzählers ist krank und stirbt. Gleichzeitig fährt das Buch dort weiter, wo die letzten Romane des Autors hinführten: beim radikalen Infragestellen des bürgerlichen Ichs und aller Erzählkonventionen. Ein artistischer Tanz auf dem hohen Seil, voller Sprachlust – und ohne Netz.
Aus: Christoph Geiser. Schöne Bescherung. Kein Familienroman. Offizin, 2013
Eine Leiter, freistehend, in den Sternenhimmel, schmal, steil – ganz fern unsere Stube. Da wieselt uns Mama schon voraus, unerwartet behände die Sprossen hinauf, und wird immer kleiner. Doch – beinahe hätte sie schon die Gaststube erreicht – sie stolpert, sie fällt: rücklings sich überschlagend, von Sprosse zu Sprosse, purzelt Mama, wie jene Plastik-Hampelmännchen an kleinen Plastikleitern, die ganze Himmelsleiter herunter. Eine schöne Bescherung! Jetzt müssen wir röntgen.
So, 01.06.14, 11:00
Die Baumeister. Eine Fiktion
Verlag Nagel & Kimche AG, 1998
Aus: Christoph Geiser. Die Baumeister. Eine Fiktion. Verlag Nagel & Kimche AG, 1998
Hat er eben geschrieen? Und sie liessen’s ein wenig versurren: nur wenig; und sie liessen ihn ein wenig, nur wenig, Luft schöpfen; und er spürt es ein wenig zurücksinken unter die Schwelle, nur wenig unter die Schwelle, und dort lauert es; fauchend; gestaltlos. Und er hört es noch fauchen im Innern. Und schon setzen sie wieder an, das Rad der Pein, diese Seilwinde, weiterzudrehen, Sprosse um Sprosse: nur eine Viertelsprosse, und schon wartet er wieder, dass es ihn anspringt, von innen, aus ihm hervorbricht – Und sie hätten’ s gehört, da oben, die wimmeln? und wir hätten’ s gehört, da unten, und es hätte uns einen Bruch in die Mauer gebrochen, und es hätte ihnen den Steg weggerissen, über den sie zu wimmeln gedachten, vor ihren wimmelnden Füssen einen Abgrund aufgerissen zwischen ihnen, die wimmeln da oben, und uns, die wir heraufdrängen, aus den tieferen Kerkern, vereinzelt noch, aber im Unsichtbaren mutmasslich schon wimmelnd – und ihm: der allein zwischen seinen Peinigern, diesen Knechten, es sind zwei, die nur ihn sehen, für ewig auf die Folter gespannt zu sein scheint: ohne reissen zu können –
Fr, 22.05.98, 10:00
Kahn, Knaben, schnelle Fahrt
Verlag Nagel & Kimche AG, 1995
Aus: Christoph Geiser. Kahn, Knaben, schnelle Fahrt. Verlag Nagel & Kimche AG, 1995
Nur an das Licht erinnere dich! die Helligkeit. Den Himmel im Fenster. Das Staken von Stangen, Stimmen und Sirren. Die lautlose Talfahrt der Waidlinge. Eine schnelle Bewegung. Kahn, Knaben, schnelle Fahrt. Goethe. 5.9.14. Winkel. Unsichtbare Knaben. Flink beim Hantieren mit Tau, Stange, Ruder im Kahn / auf wogigem - eilfertige Fahrt. Leichte Fahrt - ohne Fracht - eine angenehme Empfindung. In Fahrt gekommen endlich- keine Schlafschlaflosigkeit mehr. Kein Gedanke an Tagwacht und Wecken. Keine Spur noch von Goethe. Kein Gedanke an Schule und Rohrstock - an Mama und Papa - an gestern und morgen - an Mittag und Abend - kein Gedanke mehr urplötzlich!
Was war das?!
Ein Schrecken - als würdest du ohnmächtig, als hättest du dich verletzt, als müsstest du sterben, gleich sterben, in linnenem Weiss, als wär' es dein Leichentuch - ein heiliger Schrecken! beinah wie ein plötzlicher Schmerz. Keine angenehme Empfindung. Ein heilloser Schrecken. Kaputtgemacht! Doch da ist nichts -
Sa, 18.05.96, 14:00
Aus einem unveröffentlichten Roman
Verlag Nagel & Kimche AG, 1987