Hansjörg Schertenleib

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich. Er ist Bleisetzer, Typograph und seit 1982 freier Schriftsteller. Er schreibt Romane, Novellen, Erzählungen, Lyrik und Übersetzungen. Er lebte zwanzig Jahre in Irland, seit 2016 in Suhr im Aargau und in Maine, USA. (2020)
Werke (Auswahl)
Palast der Stille.
Kampa Verlag AG, 2020
Die Hummerzange.
Kampa Verlag AG, 2019
Die Fliegengöttin. Novelle.
Kampa Verlag AG, 2018
Jawaka.
Aufbau Verlag, 2015
Lichtung, Strand. Gedichte aus 35 Jahren.
edition bücherlese, 2015
Nachtschwimmer
.
Aufbau Verlag, 2012
Wald aus Glas.
Aufbau Verlag, 2012
Cowboysommer.
Aufbau Verlag, 2010
Das Regenorchester.
Aufbau Verlag, 2008
Der Papierkönig.
Aufbau Verlag, 2003
Schattenparadies.
Carlsen Verlag, 2001
Schilten, Schauspiel nach dem Roman von Hermann Burger.
1992
Die Geschwister.
1988
Die Prozession der Männer.
1985
Der Vorleser, Romanmanuskript.
Palast der Stille
Kampa Verlag AG, 2020
Die 42. Solothurner Literaturtage fanden aufgrund der Corona-Pandemie online satt.
Dieser autobiografische Roman beginnt mit einer Referenz an Thoreaus «Walden». Doch «Palast der Stille» ist mehr als ein Buch über das zurückgezogene Leben in der Natur und eine Hymne auf den unschätzbaren Wert der Stille für den Autor. In sehr präzisen und trotzdem nicht übererzählten Szenen folgt er dem Werden des Schriftstellers Schertenleib, seiner Kindheit und Jugend, reflektiert und vergleicht sein freiwilliges Exil in Irland mit dem jetzigen auf Spruce Head Island in Maine.
Aus: Hansjörg Schertenleib. Palast der Stille. Kampa Verlag AG, 2020
In manchen Winternächten ist es in Maine so still, als wäre alles vorbei, alles ausgestanden. Es gibt die Natur, aber nicht den Menschen, so groß ist die Stille, in der sich Hirsche, Schneehasen, Rehe und andere scheue Tiere zeigen, die uns meiden. Diese Stille anzunehmen, in der man Dinge denkt, die einem sonst nicht einfallen wollen und in der jeder Laut an Bedeutung gewinnt, ist eine Herausforderung. Das Bellen eines Hundes wird zum Hilferuf, der Schrei eines Vogels zur Warnung.
Mo, 18.05. – Mo, 08.06.20
Jawaka
Aufbau Verlag, 2015
Schertenleib erzählt in seinem Roman drei lose miteinander verbundene Stränge: Von einem jungen Mann in einer düsteren, mittelalterlich geprägten Zukunftswelt, der aus seinem Dorf flieht. Vom Autor dieser Geschichte, der in Kapstadt, wo er als writer in residence lebt, an einem Text feilt und von einem alternden bildenden Künstler in Irland, der von der Existenz eines inzwischen erwachsenen Sohnes erfährt. Die Welt, wie wir sie kennen, ist bedroht und zerstört. Schertenleib imaginiert spannungsvoll das, was folgt.
Aus: Hansjörg Schertenleib. Jawaka. Aufbau Verlag, 2015
Komisch, ging mir durch den Kopf, komisch, dass man sich auf einem so kleinen See verirren kann, in einem Boot ohne Ruder, es liegt an der Dunkelheit, begriff ich, meine Angst war wie weggeblasen, schon rauschte ich in die Nacht, Teil des gewaltigen Schwarms, ich flog, einer von vielen, flog über ein Felsenriff, unter uns eine schwankende Tiefe, der See, eine Silbertafel, die nicht spiegelt, wir flogen, wir kamen.
Sa, 07.05.16, 10:00
Sa, 07.05.16, 20:00
So, 08.05.16, 13:00
Wald aus Glas
Aufbau Verlag, 2012
Hansjörg Schertenleib verwebte in seinem mehrfach ausgezeichneten Roman Wald aus Glas die Schicksale von zwei mutigen Frauen, die Grenzen überwinden, die das Leben ihnen gesetzt hat. An den Solothurner Literaturtagen liest er aus seinem noch unveröffentlichten Roman Jakawa.
Aus: Hansjörg Schertenleib. Wald aus Glas. Aufbau Verlag, 2012
Die Frau sass am Rand der Lichtung, an den Stamm einer Birke gelehnt,...
Sa, 11.05.13, 15:00
Der Papierkönig
Aufbau Verlag, 2003
Aus: Hansjörg Schertenleib. Der Papierkönig. Aufbau Verlag, 2003
Er hört auf, die Bücher aufzubewahren, die er in Sligo beim Trödler kauft. Der Cam-pingstuhl, auf dem er am liebsten liest, steht auf einer wiesengepolsterten Felskanzel ein Stück über dem Caravan. Hat er eine Seite gelesen, reisst er sie heraus und übergibt sie dem Wind. Manche Seiten halten sich unglaublich lange in der Luft, narren die Möwen, drehen Kreise über ihm, trudeln, als stürzten sie ab, fangen sich wieder und werden so weit übers Wasser hinausgetragen, dass er sie aus den Augen verliert, bis sie, er hat sie schon vergessen, zurückkehren, als habe er sie gerufen, und wie Papierflieger irgendwo in den Felsen hinter ihm niedergehen.
In der chemischen Toilette, die im Schrank steht, hat sich der Dreck wie eine zweite Farbschicht festgebacken, darum hat er sich angewöhnt, sich mit einer Handvoll herausgerissener Buchseiten in die Wiese zu hocken, unter sich das leere Meer. So als schliesst sich der Kreis, denkt er: Da hockst du wieder und drückst. Er kann sich nicht immer beherrschen, sich nicht wie früher über die Haufen zu beugen, um zu begutachten und zu beurteilen, was er geleistet hat. Anfangs hat er auf gutes Wetter gewartet, auf Regenpausen, um sein Geschäft im Freien zu erledigen, mittlerweile hockt er auch im Niesel, ungerührt, ein Felsen, von dem sich die Schafe nicht stören lassen, eine dunkle Gestalt im Gestrichel des Regens.
Fr, 30.05.03, 11:00
Fr, 30.05.03, 14:45
Der Vorleser, Romanmanuskript
Aus: Hansjörg Schertenleib. Der Vorleser, Romanmanuskript.
Es ist mir verboten, die Hände schützend vors Gesicht zu halten oder gar als Tastinstrumente zu verwenden. Weil ich mich nicht immer daran halte, bindet sie mir Carla auf den Rücken, das ist verständlich. Ihre Stimme weist mir den Weg. Auch über den vollgestellten Dachboden mit den aufgehängten Tüchern, den staubigen Kleidern und Spinnennetzen. Es ist eine Frage des Vertrauens. Später bin ich der Blinde, der auf dem Holzboden des Schuppens liegt und gestattet, dass sein nackter Körper zum Schauplatz diverser Experimente wird. Dafür verwendet Carla natürlich nicht nur ihre Hände und Füsse und ihre weiche, nasse Zunge. Sie bearbeitet mich mit Holzstücken, von denen sie behauptet, sie seien am Strand von Piompino angeschwemmt worden, dort lebt ein Onkel von ihr. «Die Haut reib ich dir heiss damit», sagt sie geheimnisvoll, «pass bloss auf die Splitter auf, Blinder.» Meine Angst geniesse ich genauso wie sie. Nasse Steine legt sie mir auf den Oberkörper, zerbrochene Dachziegel. Eisenteile, Stroh und Schrauben, Nägel. Würmer kriechen über meine Oberschenkel, oder sind es doch Blindschleichen? Schnecken setzt sie mir auf den Bauch, ihre Schildkröte. Sie häuft Dreck auf mich, Erde.
Fr, 26.05.95, 17:00
Schilten, Schauspiel nach dem Roman von Hermann Burger
1992
Aus: Hansjörg Schertenleib. Schilten, Schauspiel nach dem Roman von Hermann Burger. 1992
Waggon lits
Amsterdam liegt nah am Meer, liegt fast daheim.
Mit den Füssen am Fenster fuhr ich in die hereinbrechende Nacht. Heiss war es unter dem gewölbten Dach, und wie der Zug über die Weichen fuhr, knackten die Waggonwände wie der Panzer jenes toten Insektes, welches ich am Sims meines Zimmers am Leidseplain gefunden und zerdrückt hatte.
Hustete da nicht eine Frau?
Hatte nicht gerade eben ein Feuerzeug geklickt?
Aber die beiden anderen Betten waren ja nicht belegt. Der enge Raum gehörte mir allein; für die ganze Fahrt, für die ganze Nacht, wie mir der Schaffner bestätigt hatte. Er trug die Papiere seiner Passagiere in der Hand, ein dicker, bunter Packen.
Ich lag still und sah mich gleichzeitig an einem Bahndamm stehen und den beleuchteten Fenstern des Nachtzuges nach sehen, in welchem ich lag - träumend mit offenen Augen.
Ich griff dann nach dem rotgefassten Buch, knipste das Lämpchen an und machte mich auf: «Meine eigene Person hat mich nie sonderlich interessiert, doch das hiess nicht, dass ich auf Wunsch einfach hätte aufhören können, über mich nachzudenken - leider nicht.»
Der Zug legte sich in eine Kurve und ich fiel in die Nacht.
So, 31.05.92, 14:00
Die Geschwister
1988
Aus: Hansjörg Schertenleib. Die Geschwister. 1988
Langsam, unendlich langsam und vorsichtig schiebe ich das brennende Hölzchen in die geöffnete Schachtel, die ich zustosse bis auf einen schmalen Spalt: Das Feuer soll sich ja entfalten können – Flügeltüren werden aufgestossen, Nahrung für die Flammen, Zugluft! Und wirklich schlagen schon nach wenigen Momenten blaue Flämmchen aus der Schachtel. Der Deckel brennt, rasch frisst sich das Feuer durch die Etikette, die Sky Line New Yorks unter einem roten Himmel, der jetzt richtig brennt, wie die Seitenwände brennen, innert kurzem verkohlt, schön, wie die Flammen auf die zweite Schachtel überspringen, The Lion, rot gefärbt auch er, im Hintergrund kümmerliche Palmen, die jetzt Feuer fangen, wie Zunder lodert das spröde Gras. Unter der Hitze krümmt sich die Etikette weg, das Papier, es rollt sich, endlich gerät die Mähne des Löwen in die Flammen, Fürio!, Fürio!, noch eine Schachtel und noch eine, Made in Denmark und alle mitgebracht von einer Reise, die Jahre zurückliegt und jetzt stehen sie in diesem Suppenteller und brennen lichterloh wie die Hochhäuser einer Stadt, Sky Line und ich wärme mir die Hände an der kleinen Katastrophe...
Fr, 13.05.88, 16:00
Die Prozession der Männer
1985
Aus: Hansjörg Schertenleib. Die Prozession der Männer. 1985
Ich hack der Amsel weg ihr Aug: Wie könnt ich leben ohne Hände, die mich rühren...