Judith Kuckart (DE)

Judith Kuckart (DE), geboren 1959 in Schwelm, lebt als Schriftstellerin und Regisseurin in Berlin und Zürich. Nach Studium und Tanzausbildung leitete sie von 1986 bis 1998 das Tanztheater Skoronel. Seit 1998 arbeitet sie als freie Regisseurin. (2016)
Werke (Auswahl)
Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück.
DuMont Buchverlag, 2015
Wünsche.
DuMont Buchverlag, 2013
Hauptsache Nylonkittel.
XIM Virgines, 2011
Die Verdächtige.
DuMont Buchverlag, 2008
Kaiserstrasse.
DuMont Buchverlag, 2006
Dorfschönheit.
DuMont Buchverlag, 2006
Lenas Liebe.
DuMont Buchverlag, 2002
Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück
DuMont Buchverlag, 2015
Die elf Einzeltexte in Judith Kuckarts Roman verschränken sich mehr und mehr ineinander. Bilder und Motive kehren wieder. Und auch Figuren tauchen in unterschiedlichen Perspektiven und anderer Beleuchtung wieder auf. In diesem Textnetz erzählt Kuckart von Lücken, (Lebens)Lügen, Wunschwelten, Alltagstragödien, davon, wie Menschen sich anstrengen, begehren und doch verfehlen.
Aus: Judith Kuckart. Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück. DuMont Buchverlag, 2015
Die Sommerwochen, die folgten, schien Sven trotzdem wie in einem weich gezeichneten Film zu verbringen. Das Wort Gnade fiel ihm ein, kombiniert mit dem Wort Frist. Bea und er fuhren nicht in Urlaub. Das Wort Glück fiel ihm ein, kombiniert mit dem Wort Pilz. Wenn er sich mit Marilyn unten in der Stadt traf, fuhr er mit dem Wagen früher als nötig los und war vor der verabredeten Zeit beim Kiosk, dem Treffpunkt, den sie ihren Kiosk nannten. Die Stadt war leer und eine Verheissung. Sie roch wie früher nach Keller und Kompost, nach Gummi, Staub und Benzin.
Fr, 06.05.16, 17:00
Sa, 07.05.16, 11:00
Kaiserstrasse
DuMont Buchverlag, 2006
Aus: Judith Kuckart. Kaiserstrasse. DuMont Buchverlag, 2006
Die ersten Mieter waren Ende 1955 eingezogen. Unter ihnen eine junge, alleinstehende Frau mit Hund. Sie war zweiundzwanzig, als sie einzog, und vierundzwanzig, als ihre Leiche aus dem Haus getragen wurde. Einen Spätherbsttag lang hatte sie Möbel hinaufbringen lassen. Die Einrichtung hatte sich nach den Vorstellungen eines Mannes mit viel Geld gerichtet. Er mietete das Appartement, richtete es ein, für sie, die keinen besonderen Geschmack hatte, aber extravagante Einfälle. Der Wohnung sollte man ansehen, wie teuer die Einrichtung war, wünschte sie sich. Nein, sagte er und ließ das Möbelhaus machen.Die Kunden der jungen Frau fühlten sich von der neuen verstanden, fühlten sich verstanden vom sachlichen Geschirr bis hin zur Bambuswand hinter der Couch, von den farbigen Stoffen, Grünpflanzen und der Essnische aus ungestrichenem Holz bis hin zu den drei großen Stehlampen, die Inseln aus warmem Licht in den kühlen Raum warfen, und ihn zu einem Ort flüchtiger Gewissheit machten, zu einem festen, hellen Boden unter den Füssen. Auch die blaue Couch gehörte dazu, auf der die junge Frau am 1. November 1957 von hinten erwürgt aufgefunden wurde, die Unterschenkel im rechten Winkel auf der Sitzfläche gelagert, der Rumpf auf dem Teppich davor. Der Rock hoch, und ein Pantoffel vom Fuß gerutscht. Eine Leiche mit aufgedunsenem Gesicht in Stufenstellung, eine Position, die der Arzt bei Rückenschmerzen empfiehlt. Auf ihre Frisur hatte sie immer mehr Acht gegeben als auf ihre Seele.
Sa, 27.05.06, 15:00
Lenas Liebe
DuMont Buchverlag, 2002
Aus: Judith Kuckart. Lenas Liebe. DuMont Buchverlag, 2002
„Lena fährt“, sagt Dahlmann. „Es ist ihr Auto.“
Zwei Männer stehen mit ihrem Gepäck in einer Reihe. Ein Koffer, ein Mann, ein Koffer, ein Mann, ein Koffer. Lena schaut Richtung Bahnhof. Hoch über den Gleisen drücken sich Kinder gegen das Brückengeländer und sehen am Sonntag den Zügen nach. Auf der anderen Seite der Brücke liegt das Dorf Brzezinka.
„Aber ich fahre über Berlin“, sagt sie.
„Macht nichts. Wir haben Zeit“, sagt der Priester. „Wir haben Zeit und in Berlin eine Übernachtungsmöglichkeit.“
Dahlmann nimmt ein Birkenblatt von der Kühlerhaube, schaut ernst und sagt nichts. Zwei Kinder auf Dreirädern und in alten Strumpfhosen stehen neben dem Auto. Auch sie schauen ernst. Die Brille des Mädchens ist beschlagen. Lena hält die Beifahrertür für Dahlmann offen. Er setzt sich, die Beine zieht er nach. Seine glänzenden schwarzen Slipper mit den Goldschnallen passen nicht auf den Asphalt von O. Der Priester zeigt mit ausgestrecktem Arm nach Osten.
„Die Pforte nach Galizien“, sagt er.
„Jaja“, sagt sie, „aber wir fahren in die andere Richtung.“