Mariella Mehr

Geboren 1947 in Zürich. 1981 erschien mit «Steinzeit» ihr erster Roman. Soeben ist ihr Gedichtband «Ognuno incatenato alla sua ora / Jeder an seine Stunde gekettet» erschienen. Mariella Mehr lebt in Zürich. (2015)
Werke (Auswahl)
Ognuno incatenato alla sua ora / Jeder an seine Stunde gekettet.
Giulio Einaudi editore, 2014
Angeklagt. Audio-CD.
Der gesunde Menschenversand, 2013
Im Sternbild des Wolfes. Gedichte.
Verlag Drava, 2003
Angeklagt.
Verlag Nagel & Kimche AG, 2002
Widerwelten. Gedichte.
Verlag Drava, 2001
Nachricht aus dem Exil: Gedichte = Nevipe andar o exilo.
1998
Brandzauber.
Verlag Nagel & Kimche AG, 1998
Zeus oder Der Zwillingston.
R+F Verlag, 1994
Kinder der Landstrasse. Drama.
Zytglogge Verlag, 1987
In diesem Traum schlendert ein roter Findling.
Zytglogge Verlag, 1983
Steinzeit.
Zytglogge Verlag, 1981
Ueber Hermann Burgers Die Künstliche Mutter. Altherrenzoten oder: Hat das Wort ein Geschlecht.
Ognuno incatenato alla sua ora / Jeder an seine Stunde gekettet
Giulio Einaudi editore, 2014
Der zweisprachige Lyrikband (Übersetzungen von Anna Ruchat) enthält die Quintessenz von Mariella Mehrs dichterischem Schaffen, darunter viele unveröffentlichte Texte. Wie in ihrem gesamten Werk, bringt die jenische Autorin mit betörender Sprachwucht existenzielle Fremdheit, Verzweiflung und Wut zum Ausdruck.
Aus: Mariella Mehr. Ognuno incatenato alla sua ora / Jeder an seine Stunde gekettet. Giulio Einaudi editore, 2014
Steinatem,
er gefriert zur
Niemandslandstille.
Kein Gedankenschatten,
unverrückbar
hält hier Wache und lauscht,
obwohl,
es könnte ein Vogel
schüchtern das Singen lernen.
//
Respiro di pietra
si gela e diventa
silenzio della terra di nessuno.
Non un’ombra di pensiero,
irremovibile
sta di guardia qui e tende l’orecchio.
Eppure,
un uccello potrebbe
imparare timidamente a cantare.
Sa, 16.05.15, 10:00
Aus: Malik, Roman, unveröffentlicht
1998
Aus: Mariella Mehr. Nachricht aus dem Exil: Gedichte = Nevipe andar o exilo. 1998
Andere haben früh gealterte Gesichter. Zu früh gealterte Haut. An mir sind es die Hände. Der tägliche Gebrauch, die damit verbundene Anstrengung liessen sie früher als alle meine andern Körperteile altern. Sie sehen, auch das Altern ist nicht mehr voraussehbar. Als mir Malik ihre Hände lieh, glichen die meinen gebrochenen Flügeln. Nun, mit 26 Jahren, hat sie selbst diese Form verlassen. Eingesperrt wie der Rest haben sie jede Daseinsberechtigung verloren. Wie soll man ohne Hände glauben, dass Handeln einen Sinn hat? Deshalb zwänge ich mich durch keine Träume ins Freie, versuche es nicht einmal, nicht wie Marlies, Sepps Hure, die man draussen Dumme Kuh nannte, weil sie für alles den Arsch hinhielt. Hier drinnen hält sich jeder nur für sich hin, wie draussen das Feuer, das auch nur sich im Visier hat, selbst wenn der Augenschein trügt. Kaum zu glauben, dass es die Marlies trotzdem nach Draussen zieht, zurück zu Sepp, dem Schönen, der sie grinsend ermunterte und zusah, wie sie dem Balg das Rückgrat brach.
Sa, 03.06.00, 14:00
Brandzauber
Verlag Nagel & Kimche AG, 1998
Aus: Mariella Mehr. Brandzauber. Verlag Nagel & Kimche AG, 1998
Manchmal fallen die Vögel vom Himmel, war einer von Annas Lieblingssätzen. In Wirklichkeit fielen sie nicht vom Himmel. Sie drangen durch die engen Mauerritzen des untern Teils des Turms ein und versuchten dann verzweifelt, dem feuchten Verliess wieder zu entkommen. Sie schossen nach oben, bis sie, ermüdet vom wilden Flattern und dem vergeblichen Versuch, an der sperrigen Glocke vorbei in die Freiheit zu fliegen, mit ihren zarten Krallen resigniert den Klöppel der Glocke umklammerten. So verausgabten sie sich und schlugen dann halbtot auf der Empore auf, oder sie blieben auf der Treppe liegen, die in den Turm führte. Meist piepsten sie noch stundenlang, ehe sie an Hunger und Durst krepierten. Unter den Vögeln gab es tapfere und weniger tapfere, feige und mutige. Einige wehrten sich wütend, während sich andere still ins Schicksal fügten. Einige benutzten ihre Instinkte mehr als andere, dann kam es sogar vor, dass der eine oder andere Vogel wieder in die Freiheit fand. Doch üblicherweise war es so, dass die Tapferen für ihre Tapferkeit bestraft wurden und einen besonders lang andauernden Todeskampf zu erleiden hatten. Anna, unerbittlich, verzieh ihnen nicht.
Fr, 09.05.97, 14:00
Fr, 09.05.97, 17:00
Aus dem Roman-Manuskript Daskind
R+F Verlag, 1994
Aus: Mariella Mehr. Zeus oder Der Zwillingston. R+F Verlag, 1994
Da hockt nun der Chrot im Kreuz des Mannes, blättert ab vom des vortags gefassten Entscheid, sich der Katharsis mannhaft zu stellen. Kann kaum schnaufen, der Kari, obwohl doch von draussen das frische Morgenlicht und eine sanfte Brise ins Haus dringen; ein schlecht getarnter Generalangriff auf die Vernunft. Karis Leib, ein randalierender Raum. Sonntag ist's, und die Frau in der Kirche betet dem Herrn ums Maul. Sind beieinander, der Herr und die Magd, verbunden im kalten Rausch, der auch dem Kari durchs Hirm schlittert. Leckt sich hin, dieser Rausch, turnt rum, affenschnell am Gedankenmüll unterm kantigen Schädel, suhlt sich in den letzten Resten Vernunft, rüttelt an den Verankerungen, die ein Gehirn zusammenhalten, weicht kein Yota vom Verwüsten, schlickt sich durch Karis Gemüt, als war da eine schwarze Hochzeit zu feiern, dieser kalte Rausch.
Ueberm Kari Daskind. Schlottert das Fleisch zurecht, das sündige. Reisst sich in den neuen Morgen, nach all dem unruhigen Schlaf und dem Traum, der sich hohnlachend ins satte Morgenlicht fläzt, grad so, dass die Nacht zurückkehrt. In die Kammer eindringt, wo's doch eben noch so traut vom Gezwitscher der Vögel, den Nestwebern, den Flügelmüttern.
Sa, 27.05.95, 17:00
Kinder der Landstrasse. Drama
Zytglogge Verlag, 1987
Fr, 05.05.89, 15:00
In diesem Traum schlendert ein roter Findling
Zytglogge Verlag, 1983
Steinzeit
Zytglogge Verlag, 1981