Sibylle Severus
Malerportraits
Aus: Sibylle Severus. Malerportraits.
"Fasnacht/Solothurn
Das Seil ist gespannt: Vom Giebel gegenüber zur Dachterrasse, auf der er steht. Ist das Seiltanzen auch nicht äusserst gefährlich, erfordert es doch völlige Konzentration, Lockerheit, der Glieder und ein straffes Seil. Es schwappt trotzdem.
Er trägt ein Narrenkleid und hört sie kommen. Tausend oder mehr Menschen, in breiten Reihen, einander eingehängt. Sie hüpfen vorwärts: drei Schritte links, drei Schritte rechts, singen: I maa nüm – I maa nüm – der Fasnachtsschlusschoral, die Schuhe zertanzt, die Stimme heiser. Sie kommen. Wozu hinausgehen auf das Seil?
Von oben gesehen, sind die Masken zusammengedrückt, vom Asphalt aus wären sie langgezogen. Von oben sind es kaum einzelne. Am Boden hüpft in langem Zug der Menschenwurm.
Er springt die Treppen hinunter. Er fliegt den Gang entlang. Er reisst die Tür auf, stürzt hinterher. Er allein bildet das Ende. Seine Stimme gellt: I maa nüm –
Glas zerbirst. Risse tun sich auf, Mauern stürzen ein. Staub sinkt auf die Stadt. Er lacht, der Narr, und schüttelt sich."