Barbara Schibli

2007

Wir an einem Ort

von Barbara Schibli

Wir an einem Ort


1. Anna


Die Neue dreht sich auf dem Bürostuhl um sich selbst. Ein Mädchen wie eine Turbine. Sonst ist nicht viel los, ich surfe im Netz. Gebe meinen Namen bei einer Suchmaschine ein. Ich bin in einem Schwimmverein in Herisau und lege in einer Diskothek in Novosibirsk auf. Man hat mich gesehen in einer Bar, in der ich nicht war. Und in einem Videoclip lacht mich ein Kind an, ruft Anna, kommt näher und sagt: Du bist die falsche.


2. Hängig

Was dokumentieren wir eigentlich?, frage ich meine Schwester. Sie lächelt in den Rauch hinaus. Mein Kopf ist sturm, zu viele Marylongs. Wir bewegen uns zu schnell, sagt sie, um dokumentiert zu werden. Deshalb sind wir auf dieser Seite. Am runden Tisch wird geschoben, von oben nach unten zählt dreifach. Meine Schwester macht sich derweil breit an der Bar. Sie zählt doppelt. Mutter sagte immer, nimm nie zwei. Wir sind eineiig. Mit dem Zeigefinger fährt Paula über die Klebestelle, die unter sich den Tabak verschliesst. So weich ist meine Schwester selten.
Auf dem Heimweg verliere ich sie. Sie bleibt in einer Tanne hängen. Die Haare hätten sich verfangen. Bei unserer Mutter war es wenigstens noch eine Fledermaus. Diese Geschichte erzählt sie immer wieder. Wie die Magd geschrieen hätte, weil das Viech nicht mehr aus den Haaren raus zu kriegen war. Nur dass Mutter mit der Fledermaus überall hätte hingehen können. Mit der Tanne aber kommt meine Schwester nie weg von Bever. Auf immer dieses Bergkaff. Bis dass dann auch ein ovales Schwarzweissfoto in ihren Grabstein aus Schiefergneis eingelassen wird. Wie bei unserer Grossmutter, der Anna Pitschna. Weiter als in die Garage ist sie nicht gekommen. Dort aber gut gehangen. Pitschna heisst bei uns „die Kleine“, aber die volle Länge von etwas sieht man erst, wenn es hängt. Anna sieht auf dem Grabsteinfoto aus wie aus einer anderen Zeit. Aber Paula ist Fotografin. Wenn sie sich nicht zu schnell bewegt, wird sie sich schon als Kind unserer Zeit hinkriegen.
Ein Bescheid für ein Aufenthaltsstipendium in Treviso ist hängig. Wenn Paula anruft, ist Gaetano gerade am Essen, in Paris, in einer Sitzung, nächste Woche wäre gut, ihre Mappe liege zuoberst auf dem Stapel. Geh doch allein auf den Mont Ventoux, sagt meine Schwester statt, verpiss dich. Ich träume von uns immer verschwommen. Paula sagt, dass sei weil wir uns zu schnell bewegten. Paula wird es schon wissen. Sie spürt auch den Eisprung. Dann muss sie eine Nummer schieben. Mutter spielt jeden Samstag Lotto. Sie spielt für zwei Franken und hat nicht selten einen Dreier. Früher hatten wir einen Krämerladen. Paula verkaufte mir das Kilo Brot für sechs Franken. In Bever scheint sich nichts zu bewegen. Und so verliebe ich mich auch jedes Mal, wenn ich wieder da bin, in Peider. Er findet, ich werde jedes Mal städtischer. Eine richtige Zürichkatze sei ich schon. Peider sitzt mit am runden Tisch.
Mutter toupiert ihr Haar nach wie vor. Nur nicht mehr zu einem hohen Turm. Jetzt ist sie kürzer als mit zwanzig. Mutter lächelt auf dem Foto, auf dem man sie mit dem selbst gehäkelten Hochzeitsschleier sieht.
Meine Schwester lächelt nicht mehr, als ich wieder frage, was dokumentieren wir eigentlich? Sie stösst mich zur Seite, verlässt das Lokal. Madlaina hinter der Bar sieht mich vorwurfsvoll an. Sie ist empfindlich, seit sie auf den Bescheid wartet. Weißt du, was das in Treviso ist? Ich lege die acht Franken auf die Theke. Beim Rausgehen nicke ich Peider zu. Er schaut kurz auf, dann ist er wieder versunken in die Karten. Er und sein Jasskumpan haben gerade den Bergpreis erreicht. Als ich die Türklinke in der Hand habe, fährt mir Madlainas Grazia fitsch vorwurfsvoll in den Rücken. Draussen hätte ich gerne das Knirschen von Schnee unter den Sohlen.
Beim Frühstück am nächsten Morgen sagt Paula, von solchen Abenden bleibt immer etwas hängen, sicher ist der Rauch in den Haaren. Ich sage, dass ich Annas Zopf zu einem Kreis gewunden neben meinem Bett aufgehängt hätte. Worauf Mutter sagt, dass das gar nicht stimme, dass Anna immer in Bever gelebt hätte. Mit neunzehn sei sie ins Unterland zum Grossvater, doch in Zürich konnten sie nicht bleiben, weil das mit dem Konkubinat nicht erlaubt war, da zogen sie nach Spreitenbach. Aber nur für einige Monate, dann seien sie wieder nach Bever gekommen.
An meinem Kühlschrank in Zürich hängen Postkarten von Bever. Paula schickt sie mir regelmässig. Als wäre sie dort in den Ferien. Das letzte Mal als Mutter in meine Wohnung kam, brachte sie Spachtelmasse mit und besserte damit Dübellöcher aus. Auch wenn du nicht auf immer hier bleibst, wie ein Provisorium muss es ja doch nicht gerade aussehen.
Ihr gefällt das grosse Ölbild, das ich letzte Woche im Brockenhaus der Heilsarmee gefunden habe und das nun in meinem Wohnzimmer hängt: eine mächtige Rottanne mit Schnee auf den Ästen.
Am nächsten Dienstag fährt Paula nach Treviso. Sie hat einen Termin bei Gaetano. Paula sagt, mit Treviso wird sich etwas herauskristallisieren. Aber in Bever will der Schnee in diesem Jahr nicht fallen. Das sei wegen der Globalisierung, sagt meine Schwester. Es werde wärmer, weil alles näher zusammenrücke, alles eins werde. Eigentlich seien Bever und Treviso dasselbe. Das Weggehen könne man sich also sparen.
Wir warten und werden weiter dokumentieren.


3. Ambrosia

In der Luft fliegen Pollen. Eine einzige der aus Amerika eingeschleppten Ambrosia-Pflanze kann mehrere hundert Millionen Pollen ausbilden. Sie machen Allergikern das Leben schwer. Mit Handschuhen und Mundschutz werden die Pflanzen ausgerissen und in Kehrichtsäcken zur Verbrennungs-anlage gebracht.
Mir ist unheimlich zumute. Der Sommer hängt schwer in der Stadt.
Ich habe einen Termin bei der Dentalhygienikerin. Mutter sagte immer, zu den Zähnen musst du schauen, sonst bekommst du mal so Theater wie ich. Ich will kein Theater im Mund. Die Frau im weissen Mantel will wissen, ob ich Medikamente nehme und ob ich gegen etwas allergisch bin. Dann muss ich den Mund öffnen. Sie sagt, starke Verfärbungen, und will wissen, wie viel ich rauche. Dann ortet sie eine Bisslinie auf der Innenseite der Wange. Schlimme Träume in der Nacht, junge Frau? Ambrosia zumindest wird den Winter nicht überleben, der Frost tötet die Pflanze.
Aus den Boxen dröhnt Techno. Die Zigarette zwischen meinen Fingern vibriert davon. Ich habe die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden. Beim Tanzen schwingt und wippt er. Mein Körper ist gespannt, und stolz spüre ich die Muskeln in den Beinen. Bereit für einen Dauerlauf. Vasja ist schon seit einiger Zeit nach draussen verschwunden. Doch dort, wo die Discokugel sich langsam dreht, sind wir eins und unsere Fingernägel deckungsgleich. Und wenn wir dann im Bett liegen werden, wird sie mir alles erzählen. Ein Kuss, mit der Zunge, weißt du. Auch Vasjas Finger waren schon an Orten, von denen meine nur träumen. Doch bevor sie mir die Zungen- und andere Höhlenspielen erzählt, holt sie noch einen Spray aus ihrer Handtasche und spritzt mir davon in den Mund und auf die Finger. Mutter, die immer wartet und manchmal noch im Bademantel in der Küche sitzt, darf nichts von den Gitanes riechen, sonst kommt Vasja dran.
Mutter trug neben den verschiedensten Bademänteln auch einmal ein Brautkleid. Doch damit wurde sie geraubt. Man hat sie in die Berge entführt. Ein alter Brauch bei uns. Dabei hätte sie am liebsten die Hand unter jene ihres soeben Angetrauten geschoben, auf dass ihre Finger unter den seinen hervor wachsen mögen. Doch als sie von ihren Brüdern befreit wurde und zurück an ihr Fest kam, war dieses in vollem Gange. Man schien sie nicht vermisst zu haben. Noch mit uns schwanger, reiste sie von Pristina in die Schweiz. Hat uns eingeschleppt. Ambrosia immerhin ist einjährig.
Der Sommer hängt schwer über der Stadt. Und in der Mitte des Gelenkbuses, dort wo der Boden aus einer Drehscheibe besteht, dreht sich ein kleines Mädchen, vier Jahre alt, immerzu um sich selbst. In den Kurven, wenn die Drehung eine doppelte wird, lacht es laut. Die ganze Fahrt über. Es scheint ihm weder schwindlig noch langweilig dabei zu werden. Das Spiel entfacht sich immer wieder aufs Neue. Nur meine Augen sind irritiert und brennen. Die ganze Stadt liegt in Ambrosia.
An diesen Sommer werden wir uns erinnern. Dejan liess sich den Oberarm tätowieren. Und die eine Nachbarin lässt sich gegen Grippe impfen. Eine andere Botox spritzen. Und in den Strassen riecht es nach Ausgangssperre. Alles wie leer gefegt. Alle sitzen vor ihren Fernsehern und schauen sich die WM an. Und draussen fliegt Ambrosia durch die Luft. Es findet sich seinen Weg auch durch dünne Fensterritzen. Nur Regen und Nächte helfen.
Vasja und ich schlafen nicht mehr im selben Zimmer. Nicht mehr in der selben Wohnung. Nicht mehr in der selben Stadt. Nicht mehr im selben Kanton. Die Nächte scheinen uns heute noch mehr zu trennen als damals. Und so rufe ich sie manchmal am Morgen an und frage, wie war deine Nacht?
Der Kanton hat einen Ambrosia-Beauftragten. Er ist überzeugt, dass man die Verbreitung der Pflanze noch eindämmen kann. Es bedürfe dafür aber der Mitwirkung der ganzen Bevölkerung. Jeder Gemeinde wurde eine Ambrosia-Pflanze im Topf zugeschickt, damit man an Ort und Stelle über Vergleichspflanzen verfügt. Das Mitwirken beim Kampf gegen Ambrosia ist obligatorisch. Wer seine Verantwortung nicht wahrnimmt, kann nach dem Landwirtschaftsgesetz gerichtlich belangt werden. Mir ist unheimlich zumute.


4. Einzelkinder

Ich habe zu lange gewartet, jetzt hängen die Quitten lahm in den Ästen. Amaya schreibt aus San Sebastian. Sie komme vor Sommer nicht zurück. Von den andern schreibt sie nichts. Bald ist Allerseelen. Die alten Frauen tragen wieder in seitlich aufgeschlitzten Plastiktüten Grabschmuck zum Friedhof. Mutter sagte immer, bleib in der Schweiz, dann wirst du auch nicht alt. San Sebastian erschöpft. Der Wind zieht streng durch die Strassen. Die Gesichter werden hart. Einmal werde ich mich entscheiden müssen, wo mein Grab liegen soll. In San Sebastian müssen jetzt die Kakis reif sein.
Ich arbeite viel in diesen Tagen, eigentlich pausenlos. Und doch scheine ich nirgends hin zu kommen. Oft starre ich durch den Bildschirm hindurch. Ich warte auf eine Postkarte von Amaya. Vor zwei Wochen musste ich mich übergeben und von der Arbeit nach Hause. Die ganze Abteilung hätte sich Sorgen um mich gemacht. Oder ob ich einfach schwanger sei? Vieles ist mir hier zu nah. Von Anfang an.
Am Abend blättere ich manchmal im Atlas. San Sebastian ist immer darin und das mehrfach. Das Buch aufgeschlagen auf den Knien, flimmert es vor meinen Augen. Manchmal sehe ich sie und manchmal nicht, die Naht, die die Welt zusammenhält, aber auch in zwei Teile teilt. Amaya hat auch eine Naht, über den Bauch. Als wäre Hektor mit einem Teigrad darüber gefahren. Sie hat ihn nicht Aitor getauft. Im Sommer kommt er in den Kindergarten. Bis dahin jongliert er bestimmt in Mutters Garten mit den Kakifrüchten und lacht. Aber nicht alles wird reif. Das zweite Herz, das man auf dem Ultraschall sah. Amaya schreit, das sei ihr Leben. Einmal schreit sie auch, San Sebastian sei schon lange nicht mehr das, was ich meine.
Amayas Postkarten hängen mit Magneten am Kühlschrank. San Sebastian in Farbe. San Sebastian Schwarzweiss. San Sebastian Panorama, Land und Leute. Meine Schwester vergisst mich nicht.


5. Bewegungsmelder


Immer wieder die Tür, die sich nicht öffnet. Die Neue taucht aus der Kaffeepause nicht mehr auf. Nach einer halben Stunde drücke ich die Taste am Telefon, die eine automatische Stimme aktiviert, die sagen wird, dass das Büro von acht bis zwölf und von dreizehn Uhr dreissig bis sechzehn Uhr bedient sei. Wer anrufen wird, wird etwas irritiert auf seine Armbanduhr schauen. Weiter wird nichts geschehen. Man wird wieder anrufen. Ich hole am Kiosk gegenüber ein Päckchen Parisiennes.
Im Bus hat es jeden Morgen einen hustenden Mann. Ich setze mich immer so, dass ich ihn im Rücken habe. Ich will nicht sehen, wie es seinen Oberkörper umher wirft. Es ist dieses Husten, das alte Männer Mitte sechzig haben. Sie sitzen da und husten, husten als hätte ihr Husten einfach seine Berechtigung, nehmen die Hände nicht vor den Mund. Onkel Georg hustet auch so. Wenn er hustet, gehe ich auf die Toilette. Wenn er lange hustet, rauche ich dort eine Zigarette. Öffne das Fenster, und blase meinen Rauch über die Badewanne hinweg nach draussen. Wenn ich fertig bin, schnippe ich die Zigarette ins Klo und spüle. Und jedes Mal vergesse ich, dass sie dabei nicht untergeht. Ich fische sie raus, lasse sie noch etwas abtropfen und werfe sie dann in diesen Abfalleimer mit dem Schwingdeckel. Der Deckel schwingt noch, wenn ich schon lange wieder im Zimmer bin. Ich gehe an der Küche vorbei, bleibe kurz im Türrahmen stehen, Gute Nacht, Onkel Georg. Er nickt. Vielleicht bekommt er in ein paar Jahren auch diesen wippenden Kopf, den viele alte Männer um die siebzig haben. Dieses unkontrollierte Wippen, wie wenn der Kopf losgelöst vom Hals sein Eigenleben hätte. Die Welt muss für diese Männer ständig in Bewegung sein. Und bis Onkel Georg siebzig ist, sitzt er am Küchentisch und wartet, auf dass etwas passiere. Und isst und isst. Meist Fleischkäse. Im Winter wird er gebraten.
Wenn ich im Winter nach Büroschluss beim Haus von Onkel Georg ankomme, dann ist es schon dunkel. Wenn man zwei Meter von der Eingangstür entfernt ist, geht das Licht rechts neben der Tür an. Ich erschrecke mich jedes Mal. Das Licht ist falsch eingestellt, weil bis zum Moment, in dem man bei der Türe ist und das Licht brauchen würde um den Schlüssel ins Loch stecken zu können, ist das Licht schon wieder aus. Das Licht sollte Einbrecher fernhalten. Auch bis zum Aufschliessen des Briefkastens reicht das Licht nicht aus. Früher begann ein Tag mit der frischen Post. Mutter legte die meine auf den Frühstücksteller. Jetzt muss ich sie jeweils abgestanden abends aus dem Kasten holen. Mutter schreibt aus Lima. Nein: Sie antwortet. Nosotros tambien. Als würden wir noch etwas teilen. Ausser Vaters Geld. Er überweist es jeweils an Onkel Georg. Dann klopft Onkel Georg an meine Zimmertür und ruft meinen Namen, den ich sonst nie von ihm höre. Paloma. Und ruft, Herbert hat das Geld geschickt. Und wenn ich öffne, drückt er mir die Scheine in die Hand. Auf den Postkarten unterschreibt Mutter auch für Vater. Onkel Georg grüssen sie nicht. Eine alte Geschichte zwischen Brüdern. Irgendetwas mit einem Chevrolet.
Vor zwei Jahren wurden Mariana und ich zu Onkel Georg geschickt. Seit da wohnen wir hier und machen die Ausbildung im Muttersitz von Vaters Konzern. Und lösen die Chevrolet-Schuld aus. Aber Mariana ist nie da, sie hat ein Geschleif.
Auf Vaters privater Homepage ist ein Foto vom Haus in der Calle de flores. Ein hoher Maschenzaun umgibt es. In dieser Stadt kann man sich einfach nicht bewegen, hör ich Vater sagen. Es ist das erste Mal, dass ich mir das anschaue. Daneben ziehe ich an einer Parisienne und schaue immer wieder zur Tür. Um halb zwölf werde ich gehen.