Christina Frosio
Unten am Bach
von Christina Frosio
Manchmal, wenn die
Tage länger werden und die Nächte heiss, zieht es mich zurück in diesen
längst vergangenen Sommer, dann stehe ich wieder auf dem Felsen und
springe hinein ins kalte Wasser, tauche tief und höre am Grund des
Baches die Steine sirren – schöne, von der Strömung rundgeschliffene
Kiesel. Und dann denke ich an Marie. Manchmal schäme ich mich und
manchmal denke ich: Ich war doch erst fünfzehn, ein schmächtiger Junge.
Es war meine erste Zeit fern von zu Hause. Ich ging nicht in eine grosse Stadt, sondern zu meinem Grossvater hinauf in ein kleines Bergdorf.
Mein Grossvater war Winzer und ich half ihm bei der Arbeit. Die meiste
Zeit schnitt ich mit einer Sichel Gras oder schob die volle Schubkarre
zum Grünhaufen am unteren Ende des Hangs. Um die Rebstöcke kümmerten
sich andere. Erfahrene Männer, sagte Grossvater. Einer von ihnen war
Carlo. Seinen Namen kannte ich erst seit der Geschichte mit der
Schubkarre, aufgefallen war er mir aber schon am ersten Abend.
Meine Arbeit war eintönig. Oft lungerte ich beim Brunnen herum. Das
Wasser war kalt und süss, die Sprüche der Männer derb. Am Brunnen
rauchte ich meine erste Zigarette, hustete und fühlte mich flau im Magen und Carlo, in Shorts und mit nacktem Oberkörper, stemmte die Schubkarre hoch, hielt sie mit gestreckten Armen über dem Kopf. Drei junge Frauen
mit Rucksäcken und bunten Tüchern im Haar fragten uns nach dem Weg,
füllten ihre Feldflaschen, lachten und klatschten Carlo zu, als er die
Schubkarre von hoch oben wieder zu Boden donnern liess. Seitdem stand
sie schief und hatte beim Schieben einen Drall nach links.
Manchmal blieb ich beim Grünhaufen stehen und lauschte. Ich konnte den
Bach rauschen hören, tief unten im Tal. Sehen konnte ich ihn nicht.
Bäume verdeckten mir die Sicht.
Es war an einem Nachmittag. Die Sonne stand schräg am Himmel. Ich rannte über die Wiese hinab zum Waldrand. Die Blätter der Bäume glänzten. Es
war sehr heiss an diesem Tag. Im Wald wurde es kühler.
Ich schlitterte den steilen Hang hinunter. Ich rannte immer schneller,
stolperte über Wurzeln und hielt mich an Ästen und Baumstämmen fest.
Erst als ich das Wasser durch die Zweige glitzern sah, wurde ich
langsamer, ruhiger, blieb stehen.
Vor mir lagen drei Wasserbecken. Sie reihten sich dicht aneinander,
unterbrochen durch grosse Steinbrocken, zwischen denen das Wasser
hindurchsprudelte. Das mittlere Becken war so tief, dass ich darin nicht mehr stehen konnte. Die Steine am Ufer waren glatt, weiss und heiss.
Das Tal war eng an dieser Stelle und trotzdem schien die Sonne bis ganz
herunter. Schnell zog ich meine Kleider aus. Ich liess mich ins eiskalte Wasser gleiten, schwamm zwei, drei Züge, atmete hastig und watete ans
Ufer. Dann legte ich mich auf die grosse Felsplatte. Ihre Wärme drang in meine Brust, breitete sich im ganzen Körper aus. Ich presste mich
fester gegen den heissen Stein, wollte einen Abdruck hinterlassen.
Die drei Wasserbecken unten am Bach wurden mein Geheimnis.
Nach der Arbeit rannte ich den Hang hinunter und stellte mich auf die
Felsplatte, blinzelte in die Sonne und wartete, bis alles verschwamm.
Dann stemmte auch ich die Schubkarre hoch, stemmte sie mit gestreckten
Armen gegen den blauen Himmel. Am anderen Ufer sah ich die Mädchen aus
meiner Klasse, sah feuchte, blonde Locken, hörte erstauntes, helles
Lachen.
„Allesamt meine Nixen“, sagte ich laut und antwortete so, fernab von
allem, auf die immer wiederkehrende gleiche, spöttische Frage am
Brunnen: „Fabio, irgendwelche Nixen unten am Bach?“
Im Wasser schrumpfte ich zusammen. Die Kälte nahm mir den Atem und auch alles andere.
Dann, eines Abends, war sie da. Sie sass am anderen Ufer auf dem flachen Stein, den geblümten Rock bis zu den Knien zurückgeschlagen, die
nackten Füsse im Wasser. Ihre Gestalt schien mit dem Stein zu
verschmelzen. Den Kopf hatte sie in den Nacken gelegt, die Augen
geschlossen, die Brille ins krause Haar zurückgeschoben. Der kleine Mund war angespannt. Später sah ich diesen Ausdruck oft in ihrem Gesicht. Es war, als würde sie lauschen. Doch damals sah ich vor allem ihre Fülle.
Alles an ihr war rund und irgendwie zu kurz oder zu klein. Ich dachte an eine Puppe, eine mit Pausbacken, bunt bemalt und mit wirrem Haar. Ein
grosser schwarzer Hund spielte im Wasser. An diesem Abend habe ich nicht gebadet.
Wenn ich kam, war sie schon da. Auf dem flachen Stein, am anderen Ufer.
Ich legte mich in meinen Shorts auf die Felsplatte. Meine Spiele liess
ich bleiben. Das Baden auch, in der ersten Zeit. Stattdessen blinzelte
ich zu ihr hinüber, doch nur wenn ich wusste, dass sie mich nicht sehen
konnte. Unter Wasser schillerte ihre Haut wie der Bauch eines Fisches.
Ich gewöhnte mich an sie. Es entstand ein Nebeneinander. Sie badete
hinten, ich vorne. Wenn der Hund im Wasser war, badete ich nicht.
„Marie“, sagte sie. Es kam unerwartet. Ich lag auf der Felsplatte, sie
stand mit dem Hund beim mittleren Becken, halb im Wasser. Jetzt aus der
Nähe sah ich die dicken Brillengläser und dahinter ihre hellblauen,
grossen Augen. Und die vielen Sommersprossen, überall. Ihr Badeanzug war altmodisch und hatte grosse Körbe für die Brüste.
„Ich heisse Marie“, wiederholte sie. Und dann: „Bist du einer der Jungs, die früher dort vom Felsen sprangen?“. Sie zeigte nach vorne auf eine
grosse Felswand. Unten war Kies und Geröll. Ich sah sie verwirrt an.
Ihre Stimme war viel tiefer, als ich gedacht hatte.
„Sie haben das Becken im letzten Jahr zugeschüttet“, sagte sie, „zu gefährlich, zu viel Abfall, was weiss ich.“
„Nein“, sagte ich. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. „Fabio“, fügte ich schliesslich hinzu.
Wenn der Hund badete, sass sie jetzt oft auf meiner Seite des Baches,
etwas unterhalb der Felsplatte. Sie plauderte mit dem Hund, später auch
mit mir. Über ihre Arbeit, als Küchenhilfe im Spital, unten in der
Stadt. Und einmal sprach sie auch über das Leben, sagte, dass man selber mithelfen könne, sich gut und gesund zu fühlen, dass man die Wahl
hätte, oft, nicht immer und nicht bei allem, dass wisse sie, doch oft,
und ich fragte mich, was sie meinte. Ich hörte ihr zu und schaute sie
an. Beim Sprechen bewegte sich ihr ganzes Gesicht.
Das kalte Wasser schien ihr nichts auszumachen. Sie badete länger als
ich, setzte sich danach auf den grossen, flachen Stein. Und dann legte
sich manchmal dieser lauschende Ausdruck auf ihr Gesicht. Ich wendete
mich ab in diesen Momenten, rauchte und liess welke Blätter auf dem
Wasser treiben.
Ich streifte durch die Tage, schnitt mit der Sichel Gras, sass auf dem
Brunnenrand, die eine Hand im Wasser und starrte in die reglose
Landschaft, die Luft flirrend von Hitze und Staub. Abends, plötzlich,
zuckte es in meinen Armen und Beinen. Dann strauchelte ich über die
Wiese, glitt den Abhang hinunter, sprang wieder von der Felsplatte,
tauchte nach den runden Kieseln und gewöhnte mich an den Hund.
Es machte Spass. Ich wollte es mir lange nicht eingestehen, aber mit
Marie machte es Spass. Es gefiel mir, nicht mehr allein hier unten am
Bach zu sein und es gefiel mir, Marie zu beobachten. Sie hatte eine Art, sich zu bewegen, träge, etwas schwerfällig und doch ganz
selbstverständlich, so als wäre sie eins mit sich und dem Bach, den
Steinen. Etwas davon ging auf mich über. Ich fühlte mich sicherer,
freier. Am Brunnen lachte ich lauter. Die Sprüche der Männer beflügelten mich.
Einmal fragte ich Marie, warum sie nicht schon früher hierher gekommen
sei. „Der Sommer dauert schon eine ganze Weile“, sagte ich.
„Pino war verletzt. Ein offene Wunde“, antwortete sie.
Ich schaute sie verwundert an. Marie hatte einen Sohn? Von Kindern hatte sie bis jetzt noch nie gesprochen. Ich wusste nicht warum, aber es
fühlte sich merkwürdig an. Irgendwie war mir das unangenehm.
„Mein Hund“, fügte sie hinzu, als sie meine Verwirrung sah. Ich lachte
laut auf und tauchte weg. Wir badeten beide im mittleren, tiefen Becken. Als ich wieder auftauchte, streifte ich mit der Schulter ihre Brust.
Sie stand plötzlich ganz nah bei mir. Ich sah ihr breites Gesicht,
dachte, sogar an den Lippen hat sie Sommersprossen. Ich wollte sie
berühren, diese Lippen und nicht nur mit den Fingern. Da traf mich eine
Handvoll Wasser, mitten ins Gesicht. Maries Lachen, so viel heller als
ihre Stimme. Ich tauchte unter, schwamm zum anderen Ufer, Gänsehaut am
ganzen Körper. Sie hatte es gesehen. Dazu brauchte es keine Brille, das
wusste ich. Später an diesem Abend hatte Marie die Idee mit dem
gemeinsamen Picknick.
Das Picknick bestand aus vielen kleinen Plastikbehältern, gefüllt mit
Speiseresten aus der Spitalküche. Bohnensalat und Maissalat, alles, was
ich sonst nie ass. Ich brachte eine Sechserpackung Bier. Unter
Grossvaters Küchenbank standen immer welche. Und Zigaretten. Marie hatte ein Tischtuch mitgebracht, bunt kariert und breitete darauf das Essen
aus. Ich ass etwas Bohnensalat, Marie zuliebe und trank. Die Sonne ging
unter. Es blieb angenehm warm. Ich redete mehr als sonst, erzählte sogar etwas von zu Hause und einmal streichelte ich den Hund. Sein Körper war hart, so gar nicht weich oder schwammig wie ich es erwartet hatte; das
Fell struppig und feucht. Ich kenne keine Hunde, dachte ich, auch keine
Katzen und plötzlich spürte ich ein Ziehen im Rücken. Ich sprang auf,
zog das Hemd über den Kopf und schwankte gefährlich vorne an der
Felsplatte. „Marie, ich geh baden“, rief ich und liess mich einfach
fallen. Als ich auftauchte, war sie schon unten an der Felsplatte. Ich
begann sofort zu schlottern, wollte lachen, witzig sein, doch meine
Lippen gehorchten mir nicht. Mein Fuss rutschte weg, verklemmte sich
zwischen den glitschigen Steinen am Ufer. Ich fiel auf die Knie,
schürfte mir die Handflächen auf, fluchte und zerrte den Fuss frei.
Schmerzen hatte ich keine, noch nicht, doch mir war übel. Erst da merkte ich, wie betrunken ich war.
Marie half mir aus dem Wasser. Sie trocknete mir die Schultern, das Haar und zog mir das Hemd über. Sie plauderte die ganze Zeit, leise, ruhig.
Der Knöchel war jetzt geschwollen, seitlich. Es sah aus wie ein
Tennisball.
„Komm, zieh über“, sagte Marie und hielt mir die Hose hin.
„Über die nassen Shorts“, dachte ich und sagte es. Meine Stimme klang viel zu hoch. Ich stotterte.
„Ich denke, ja“, antwortete Marie und legte mir das Badetuch in den Schoss. „Ich bringe dich nach Hause. Oben steht mein Auto.“
Auf der anderen Seite des Baches war die Strasse viel näher. Marie nahm
den Hund an die Leine. Dann nahm sie die Badetasche hoch, packte mich
fest um die Hüften und half mir über den Bach. Der Hund zog kräftig. Wir stolperten den Hang hinauf. Es war jetzt beinahe dunkel. Ich versuchte, nicht zu stöhnen und gerade zu gehen. Einmal blieb ich stehen, würgte
und krümmte mich über trockenes Laub, doch nichts kam hoch. Fast zwei
Liter Bier, dachte ich und dann dachte ich an Maries Auto. Ich konnte es mir nicht vorstellen.
Es war klein und voller Sachen. Kleider. Irgendwelche Plastiktüten.
Hinten lag eine Decke für den Hund. Marie fegte meinen Sitz frei und
half mir ins Auto. Ich sagte: „Lass das.“
Der Sicherheitsgurt klemmte. Ich schloss einfach die Augen. Der Hund
rumorte hinten. Marie stieg ein, nahm meinen Gurt und schloss die
Schnalle. Sie drückte mir eine Plastiktüte in die Hand. „Für alle
Fälle“, sagte sie.
Dann fuhr sie los. Es holperte. Wir schwiegen beide. Ich wusste nicht
wie ich sitzen sollte, wohin mit dem verletzten Fuss und bald wusste ich nicht mehr, wie lange wir schon fuhren. Die Strasse war kurvenreich und beiderseits gesäumt von Bäumen – schwarz und verzerrt im
Scheinwerferlicht. Mein Magen krampfte sich erneut zusammen, es rauschte in meinen Ohren und plötzlich fühlte sich alles unwirklich an. Ich sah
Hände am Lenkrad, kleine Finger mit rundgefeilten Nägeln und ein paar
Augenblicke lang wusste ich nicht, wessen Hände ich sah. Mich jetzt nur
nicht übergeben, dachte ich und gleichzeitig stellte ich mir einen
Unfall vor, spürte Glasscherben im Gesicht.
Marie hielt mich um die Hüften, ich hatte meinen Arm um ihre Schulter
gelegt. Wir stiegen die Stufen zu Grossvaters Haustür empor. Die Frage
traf mich von hinten. Carlo stand im Halbdunkel an die Hauswand gelehnt
und rauchte. Seine Stimme hallte in meinen Ohren, gelangweilt. „Fabio,
ist das deine Nixe?“
Ich schaute zu ihm hinüber, dann zu Marie. Ich sah ihre dicken
Brillengläser, ihre Augen nur unscharf, sah das wirre Haar und spürte
den festen Körper an meiner Seite. Was macht sie hier, dachte ich, sie
sollte nicht hier sein. Es ist falsch. Vollkommen falsch. Ich machte
mich unsanft los und setzte den verletzten Fuss auf den Boden. Alles
verschwamm.
„Nein, ich kenne sie nicht“, sagte ich und tastete nach der Haustür. „Sie hat mich nur hergebracht.“ Der Boden schwankte.
Im Wohnzimmer brach die Welt auseinander, wie in einem Kaleidoskop. Ich
lehnte mich gegen die Wand. Die Worte drehten in meinem Kopf, kehrten
immer wieder. Ich kenne sie nicht, nein, ich kenne sie nicht. Der
Knöchel pulsierte. Der Schmerz zuckte durch meinen Körper bis hinauf
unter die Schädeldecke. Und trotzdem wusste ich: es blieb mir noch Zeit. Ich könnte mich zum Fenster schleppen und Maries Namen schreien in die
Nacht, noch könnte ich es tun. Gleichzeitig fühlte ich mich leer, fast
erleichtert, als wäre alles schon längst Vergangenheit und hätte nichts
mehr mit mir zu tun. Mit den Fingerkuppen strich ich über die grobe
Maserung der Tapete, suchte nach dem Lichtschalter, liess es bleiben.
Langsam rutschte ich mit dem Rücken der Wand entlang zu Boden.
Am nächsten Morgen regnete es. Für mich war es ein Zeichen: Der Sommer
war zu Ende. Oder schien wie immer die Sonne und ich hatte mir nur
gewünscht, es würde regnen. Ich weiss es nicht mehr. Ich weiss nicht,
was Marie fühlte in dieser Nacht und werde es nie erfahren. So wie ich
nie wissen werde, wonach sie lauschte, wenn sie wie hingegossen auf der
flachen Steinplatte sass. Heute denke ich, sie hörte die Steine klingen, die rundgeschliffenen Kiesel unten im Bachbett, deren hell sirrenden
Ton ich selber nur wahrnehmen konnte, wenn ich tief hinunter tauchte und das kalte Wasser mir die Brust zusammenzog.