Helmut Maier

2004

Die Herrscherin

von Helmut Maier

So habe ich sie noch nie gesehen. Langes, weisses Haar. Ein Nachthemd, das bis zum Boden reicht und offen lässt, ob sich darunter Füsse verbergen. Im Halbdunkel schwebt sie durch das Wohnzimmer. Zwischen uns nur der Tisch, ihr hüftlanges, offenes Haar und ihr Nachthemd. Und warum kannst du nicht schlafen? Hast du was angestellt? Ich starre sie nur an. Es ist nicht der erste Sommer, den wir bei Oma verbringen. Dieses lange Haar. Dieses Nachthemd. Behutsam legt sie eine dicke Federdecke über mich. Unter mir das harte Sofa. Notdürftig mit einem Leintuch bedeckt.
Hat die Tante wieder geschnarcht? Ein weiches Kissen unter den Kopf. Du musst sie halt wecken. Die schläft schon wieder ein. Ihre Hand auf meiner kindlichen Stirn. Krank bist du nicht. Ist es der Fluss?
Ich starre sie nur an. Die halbe Nacht haben sie mich herumgereicht. Vom Zimmer der Tante, bei der der Wecker tickt in das Zimmer der Eltern, bei denen der Wecker tickt in das Zimmer der Schwester, bei der der Wecker tickt. Zum Schluss ins Wohnzimmer, wo die grosse Wanduhr tickt. Der Fluss ist es nicht. Sein nahes Rauschen beruhigt mich. Selbst wenn sein nächtliches Hochwasser tost wie vor einer Woche, als sich das Dorf vor Omas Haus versammelte. Gespannt, ob die hölzerne Fussgängerbrücke den reissenden Fluten Stand hielte. Einzig Oma fehlte. Oma mit dem ewigen Knoten im Haar, der zu ihr gehörte wie ihre fehlende Neugier am Dorftratsch. Sie sass in der Küche, hörte ihre Nachmittagssendung und fädelte Bohnen. Später fütterte sie die Hühner im Gehege hinter dem Haus, keine drei Meter vom donnernden Fluss. Zwischendurch holte sie mich vom Wasser weg und schickte mich in den Keller. Most holen. Grossvater hatte Durst. Ich war stolz, dass sie mich neuerdings allein in den dunklen Keller hinabsteigen liess. Oma wusste, dass es da unten nichts gab, vor dem ich mich fürchten müsste. Ich durfte auch immer vom gleichen Most trinken wie Grossvater. Von jenem Most, mit dem er sich schon morgens die Welt verdoppelte, um den Verlust des einen Auges wettzumachen. Einen Verlust, um den Oma die Gerüchte ranken liess wie ihre Bohnen. Mit Erfolg. Bald wusste niemand mehr, was wirklich geschehen war. Spiel mit der Steinschleuder, Kriegsverletzung, Schlägerei in der Kneipe oder ein Sturz im Suff. Oma verliert darüber nie ein Wort. Stattdessen versüsst sie Grossvater das Restleben mit Most und mir den Most mit Zucker. Sie zimmert das Fass, das mich zum Trinker machen wird, so unbeirrt, wie sie die Hühner füttert, die sie später schlachtet. Auch darüber verliert sie nie ein Wort. Auch nicht über die Brücke, deren Einsturz ich im Keller verpasste, oder über ihren Kropf, der aussieht, als ob ihr ein hartgekochtes Ei im Hals steckengeblieben wäre. Die Rache der Hühner, wie meine Schwester meint. Mein Cousin nickt. Auch er ist jeden Sommer hier. Sie ist hart im Nehmen, sagt er. Oma verband ihm die Hand, als nicht mehr viel zu verbinden war. Seinen Schock verlängerte sie mit Schnaps, dass es im Hals nur so brannte. Und während alle um die eingetroffenen Sanitäter herumschwirrten, verschwand sie hinter dem Haus. Später sass sie auf dem Vordersitz der Ambulanz. Auf ihrem Schoss ein Marmeladeglas mit einer rötlichen Brühe. Der Beifahrer schaute hin und kippte um. Die Finger, eingelegt im Rest des Schnapses. Für den Fahrer gab es nichts zu überlegen. Wer Oma dort sitzen sah, wusste, dass es Zeit war loszufahren. Der Beifahrer wurde im Taxi nachgeliefert. Als sie zurückkam führte sie mich hinter das Haus. Zum Holzbock neben dem Hühnergehege. Holzhacken. Mit der blutverschmierten Axt, die viel zu schwer war für mich. Soso, zu schwer. Dann lass die Finger davon. Sonst landen sie auch im Schnaps. Sie nahm mir die Axt aus der Hand und warf sie in den Fluss. Wenn Oma etwas anordnete, galt es selbst für den Polizisten, den Pfarrer und die Ewigkeit. Alle drei hatten nichts zu melden, wenn Oma tat, was sie tun wollte. Sie bestimmte, dass sie den Sonntag heiligte, indem sie die Kirche mit ihrem Besuch verschonte. Sie legte fest, an welchen Tagen sie die Badezimmertür verschloss, um den älteren Cousin vom Schmutz zu befreien. Sie wusste, wann Kinder zu Heranwachsenden wurden und nicht mehr gemeinsam baden sollten. Sie erklärte, dass auch ich ab morgen alleine baden werde. Es ist die Uhr, flüstere ich, als sie sich leise über mich beugt. Der Raum ist jetzt dunkel. Ihre Hände streichen sanft über die Bettdecke. Sie drücken sie da und dort zu recht. Es fühlt sich an, als ob sie etwas suchen würden. Ihr Haar schmeichelt bereits über meine Wangen. Aha, sagt sie. Die Uhr.
Oma ist die letzte Instanz. Jeden Morgen zieht sie mit verknotetem Haar an den eisernen Tannzapfen der Wanduhr und gibt der Zeit neuen Anlauf. Ihr ist es auch vorbehalten, die Zeit anzuhalten. Sie macht es mit derselben Bestimmtheit, mit der sie die Hühner köpft und anschliessend herumrennen lässt, wie sie uns Heranwachsende herumrennen lässt. Kopflos, bis uns der Schnauf ausgeht.
Im Dunkeln tastet sie nach dem Tannzapfen.
Ich halte den Atem an.
Sie nimmt den Tannzapfen in die Hand.
Die Zeit steht still.