Ivana Radmilovic
Der Mann im Zug.
von Ivana Radmilovic
Als ich im
Speisewagen sass und in meinen Kaffee starrte, blendete mich in einem
Moment seitwärts die untergehende Sonne, die hinter dichten Wäldern
hervorbrach; und als ich meinen Kopf abwandte, da mich das Licht
schmerzte und etwas verlegen machte, fiel mir der Mann auf, der in
einiger Entfernung von mir sass und mich beobachtete. Sein Blick war mir unangenehm, so senkte ich den meinen, um meine Finger und den an den
Rändern abgesplitterten Lack auf meinen Nägeln zu betrachten. Ich hob
den Kopf erst wieder, als ich bemerkte, dass er vor mir stand.
Eigentlich erwartete ich eine jener Fragen, die im Alltag so absehbar
sind, doch er setzte sich einfach zu mir an den Tisch und schwieg. Als
ich mich gerade dazu entschieden hatte, Musik zu hören, um diese neue
Stille zu stören und zu meinen Hörern greifen wollte, fing er mit
sonorer Stimme zu sprechen an. Er blickte mir nicht in die Augen, und
sein offenkundiges Desinteresse an meiner Person beruhigte mich rasch.
Ich dachte noch flüchtig, bevor ich mich in seine Worte vertiefte, er
würde mir von einer verlorenen Liebe erzählen oder von der Einsamkeit,
doch er begann von seinem Vater zu sprechen, den er vorher hatte
besuchen wollen, in seinem Heimatdorf, aus dem er vor einigen Jahren
weggezogen war. Sein Vater hatte jahrelang Musik im Dorf unterrichtet
und seine Geduld an der Talentlosigkeit plumper Kinder aufgezehrt – er
war ein eher schweigsamer Mensch und ging oft stundenlang spazieren.
Während der Mann erzählte, betrachtete ich sein Gesicht mit den scharf
geschnittenen Zügen, seinen sprechenden Mund, seine Finger, die ein
Stück Papier immer wieder von Neuem auseinander- und zusammenfalteten.
Ich fühlte mich leicht betäubt in der Gegenwart dieses Fremden, als
würde jemand sachte über meinen Rücken streichen. Seine Stimme umhüllte
mich und gesellte sich zu den Geräuschen, die der Zug von sich gab.
Nach einem Augenblick des Schweigens sagte er, dass sich das Verhalten
seines Vaters, nachdem dieser in Rente gegangen war, beinahe unmerklich
verändert hatte. Obschon dieser zwar nach wie vor still und
zurückgezogen lebte, neigte er nun von Zeit zu Zeit zu seltsamen sowie
kurzlebigen Wutausbrüchen. Da das Verhältnis zu seinem Vater nie
wirklich offen gewesen war, und der Zorn so rasch zu verrauchen schien,
wie er entflammte, fügte es sich, dass diese väterlichen Gewitter meist
unkommentiert vorüberzogen. Sein Vater und er waren sich in diesem Punkt sehr ähnlich, es fiel ihnen beiden schwer, über Dinge zu reden, die
sich ausserhalb des Alltagsbereiches bewegten. Zudem erklärte er sich
die seltsamen Stimmungen seines Vaters durch den unerwarteten Tod seiner Mutter vor einigen Jahren. Denn die Einsamkeit lasse die Menschen ja
bisweilen etwas kauzig werden.
Er entschied sich daher vor einigen Monaten, die Anzahl seiner Besuche
zu erhöhen, auch wenn ihm die lange Fahrt aufs Land zuwider war und das
Dorf in ihm unangenehme Erinnerungen auslöste. Es ergab im Laufe der
Zeit, dass er jeweils samstagnachmittags zum Vater hinausfuhr, dort
einige Stunden mit ihm verbrachte und am Abend wieder in die Stadt
zurückkehrte. Doch dieses Mal hatte er bereits am Freitag in der Bahn
Richtung Heimatdorf gesessen, da er mit Freunden einen Ausflug über das
Wochenende plante. Er hatte seinem Vater vorher nicht Bescheid gegeben,
es war nicht das erste Mal, dass er unangemeldet bei ihm auftauchte.
Natürlich sei er auch im Besitz eines Zweitschlüssels, er war zu Hause
ja immer willkommen gewesen.
Ich trank den letzten Schluck meines Kaffees und schaute aus dem Fenster auf die fliehende Landschaft. Die Sonne entzog sich meinem Blick schon
seit einer geraumen Weile und es wurde allmählich dunkel. Er räusperte
sich und ich schaute ihn wieder an.
Als er dann zu Hause angekommen war und den Geruch seiner abgestandenen
Kindheit eingeatmet hatte, hielt er kurz inne und horchte, ob ihm nicht
etwaige Geräusche den Aufenthaltsort seines Vaters verraten könnten.
Vielleicht machte dieser gerade einen seiner einsamen Spaziergänge, aber das Dorf und seine umliegende Gegend waren überschaubar und die Wege
nicht zahlreich. In diesem Fall machte er sich jeweils auf die Suche
nach seinem Vater und schloss sich ihm eine Weile an. Er mochte es,
neben ihm herzugehen. Dieser sprach zwar nicht viel auf seinen
Spaziergängen, aber wenn, dann sagte er gute Dinge – sein Vater sei im
Grunde ein kluger Mensch.
Als er nun da im Gang gestanden hatte und nur Stille um ihn war, ging er in die Küche, um Wasser zu trinken, bevor er sich draussen auf die
Suche machen wollte. Auf dem Weg zur Küche hörte er ein Geräusch aus dem Keller heraufsteigen. Er öffnete die Türe und leise Jazzmusik kam ihm
von unten entgegen sowie ein anderer Laut, der ihn innehalten liess. Es
klang wie ein Murmeln, hin und wieder durchbrochen von einem
unterdrückten Keuchen. Für einen Augenblick überlegte er sich, einfach
umzudrehen, das Haus zu verlassen und wieder zurück in die Stadt zu
fahren. Aber es riss ihn abwärts zu dieser Geräuschkulisse, und er
tastete sich langsam die Stufen entlang. Mitten in der Bewegung blieb er stehen, als er in einer Ecke des Kellers eine Silhouette erkannte. Der
Raum war schummrig und muffig und ein seltsam beissender Geruch drang
ihm in die Nase. Er sah seinen Vater, mit dem Rücken gegen ihn gewandt
auf dem Boden knien, nur bekleidet mit einem Unterhemd und einer weissen langen Unterhose, die ausgetragen schien. Der Nacken seines Vaters war
gebeugt und der Oberkörper, der sich langsam zu einem gleichförmigen
Gemurmel hin- und herbewegte, war hager und bleich. Er betrachtete den
knienden alten Mann fassungslos, wobei dieser in einem plötzlichen
Impuls ruckartig seinen bis anhin gesenkten Kopf in die Höhe warf, als
wäre er ein wildes Tier, das soeben Witterung aufgenommen hatte. So
hielt er eine Weile zitternd inne und breitete dann langsam seine Arme
aus. In diesem Moment wurde auch das Messer in des Vaters ausgestreckter Hand sichtbar.
Der Mann brach seine Rede ab und blickte mich unerwartet lange an und
fuhr dann fort: dass ihn insbesondere die Verwahrlosung seines Vaters
erschüttert hatte, da dieser sonst stets grossen Wert auf ein makelloses Äusseres legte. Daher hatte er auch für den Bruchteil einer Sekunde
gedacht, es könnte sich nur um eine Verwechslung handeln beziehungsweise der im Keller seines Vaters kauernde Mann wäre ein Fremder. Doch das
schütter gewordene Haar und auch die steil herabfallenden knochigen
Schultern waren unverkennbar.
Er war reglos dagestanden und hatte gebannt beobachtet, wie das Messer
aus der einen Hand in die andere wanderte, wobei er erst allmählich
begriff, dass sich sein Vater Schnitte auf der Innenseite beider seiner
Arme zufügen musste, denn dunkles Blut tropfte saftig und dickflüssig
auf den Kellerboden, der bereits zahlreiche dunkle Verfärbungen
aufzeigte. Während dieses Rituals erstarb das Gemurmel nicht, und er
versuchte sich zu erinnern, ob er mit seinem Vater jemals über Glauben
und Religion gesprochen hatte. Er suchte rasch mit seinen Augen den
Keller nach religiösen Symbolen ab, doch er sah nur Vaters alte
Schallplatten, die sich im breit angelegten Gestell bis unter die Decke
stapelten. Obwohl das Murmeln von Zeit zu Zeit anschwoll, konnte er
keine einzelnen Worte ergründen, es schien fast, als würde sein Vater in einer anderen Sprache sprechen, was jedoch unwahrscheinlich war, denn
dieser sprach ausser dem Schweizerdeutschen nur noch ein harziges
Hochdeutsch und ein stockendes Italienisch, das er sich auf seinen
vereinzelten Ausflügen nach Umbrien angeeignet hatte.
Es ist unglaublich, sprach der Mann – und ein etwas bemühtes Lächeln
brachte sein ganzes Gesicht in eine komische Schieflage – was einem so
durch den Kopf geht, wenn man etwas sieht, das über das eigene
Erfassungsvermögen hinausgeht: Als ich meinen Vater vor mir knien sah,
da überkam mich ein so heftiges Gefühl der Verzweiflung und fast im
selben Augenblick verliess mich der Wunsch zu verstehen, weshalb mein
Vater dies tat. Und als er dann plötzlich nach vorne kippte, eine
Zeitlang reglos da lag und dann wimmernd die Knie mit seinen weissen und schmächtigen Armen umfasste – da spürte ich nur Leere in mir. Ich
betrachtete einige Augenblicke lang seinen zuckenden und verwelkten Leib und verliess den Keller und dann das Haus, in dem meine Kindheit einst
war und nun verloren schien, ohne einen Laut von mir zu geben. Ich
steuerte geradewegs auf den Bahnhof zu und versuchte, an nichts zu
denken, doch Angst befiel und lähmte mich, noch bevor ich in den Zug
steigen konnte.
Ich hatte ihn die letzten Minuten unaufhörlich angesehen und jedes
seiner Worte drang in mich. Das Maskenhafte an seinen Zügen hatte sich
verflüchtigt und seine Augen schienen dunkler zu sein als zuvor. Mir kam der Gedanke, dass er eine Erwiderung von mir erwarten könnte und
räusperte mich. Ich hatte lange Zeit mit niemandem gesprochen und hob
an, doch meine Stimme erstarb nach einigen heiseren Worten. Das erste
Mal, seit er sprach, sah er mich an, als würde er mich wirklich sehen.
Langsam reckte er sein Kinn etwas höher, was ihm etwas Bedrohliches
anhaften liess und seine Augen wirkten nun beinahe schwarz, wie zwei
grobkantige Kohlenstücke. Die Stimmung hatte sich verändert und mir war
kalt. Ich wusste nicht, weshalb ich überhaupt reagieren wollte,
wahrscheinlich nur, um irgendetwas zu sagen – einem Fremden, in einem
Zug, der nirgendwohin zu fahren schien. Als ich ihn wieder anblickte,
sah ich erstaunt, dass er lächelte.
Das Gesicht des Mannes hatte wieder etwas Steinernes, als er
weitersprach: Ich konnte nicht in diesen Zug steigen, alles sträubte
sich in mir, einfach so wegzufahren. Von der Bahnhofshalle aus rief ich
meinen Vater an und liess lange klingeln. Seine Stimme klang müde und
wir sprachen nur kurz, wobei er wortkarg wie immer war, und ich fragte
ihn, wie es ihm gehe. Der Vater stockte unmerklich, bevor er antwortete: ganz gut – und diese kleine Pause vor seiner Antwort machte mir
bewusst, dass ich ihn noch nie nach seinem Befinden gefragt hatte -
nicht so, nicht wirklich. Ich erkannte, dass es gar keine Rolle spielen
würde, ob ich was sagte, denn plötzlich sah ich Vaters Traurigkeit in
ihrem ganzen Ausmass, spürte sie in mir und fühlte, wie sie sich mit
meiner verband. Nun begann sich das Bild meines Vaters in meinem Kopf zu verändern, es krümmte sich langsam, wie erhitztes Plastik – und liess
einer unglaublichen Erleichterung Raum. Ich atmete tief ein, um nach
einem platzenden Auflachen wieder die ganze Luft rauszulassen – ich
fühlte mich beschwingt und frei. Mein Vater schwieg weiterhin und bevor
ich auflegte, sagte ich ihm, dass ich bald wieder zu Besuch kommen
würde.
Er schaute mich lange an und teilte mir dann mit, dass er jetzt
aussteigen müsse. Ich konnte nichts sagen und sah aus dem Fenster, das
aufgrund des abendlichen Dunkels, nur ein verzerrtes Spiegelbild für
mich bereithielt. Er stand auf und schüttelte sich die Papierfetzchen
von der Hose. Bevor er sich umdrehte und den Speisewagen verliess,
schien er kurz zu zögern, hob dann langsam seine Hand – einem Winken
gleich – nickte leicht und ging.