Johanna Veszeli

2017

Schwimmhäute

Der Himmel steckt das Meer mit seiner Unruhe an.
Wellen tosen auf das Kliff zu, nur um vom Wind wieder Richtung Ozean zurückgeworfen zu werden.
Regen prasselt auf das dunkle Wasser.
Jeder, der noch draussen ist, macht sich schleunigst auf die Suche nach einem Unterstand.
Eine einzige Gestalt ist noch am Strand unterwegs. Sie läuft durch den nassen Sand, direkt aufs Meer zu. Ignoriert den Sturm, der ihr immer heftiger entgegenschlägt.
In den Armen hält sie etwas, das einem Pelzmantel gleicht.
Als sie das Wasser erreicht, streift sie Schuhe und Kleider ab und lässt sie am Strand zurück, sie werden später von der Flut weggeschwemmt.
Während sie in die Nordsee watet, hält sie den Pelz noch immer an sich gedrückt. Es ist schwer, in den Wellen voranzukommen, noch schwerer als sie erwartet hat.
Ihre Haare sind durchnässt, noch bevor das Wasser ihr bis zu den Schultern reicht. Doch je stärker das Meer um sie herum tobt, umso ruhiger wird sie. Sie kann gerade noch stehen, als sie den Pelz überstreift, wie einen losen Badeanzug.
Vielleicht holt sie einmal tief Luft, bevor sie abtaucht, vielleicht schlägt eine Robbenflosse auf die Oberfläche. Dann ist sie fort.

So ähnlich habe ich es mir jedenfalls ausgemalt.
Die Szene wurde mit jedem Detail, jedem neuen Bild etwas lebendiger, bis ich mich schliesslich überzeugt hatte, dass es so und nicht anders passiert war. Aber das konnte ich dem Beamten unmöglich sagen.
Seine Uniform war dieselbe wie die der Polizisten hier, nur die professionell besorgte Miene verriet, dass er extra vom Festland hergefahren war. «Tschuldigung, was war nochmals die Frage?» Der Mann seufzte, vermutlich kamen ihm gerade Zweifel, ob er es noch auf die letzte Fähre schaffen würde. «Hat ihre Freundin jemals Andeutungen gemacht, dass sie weglaufen wollte?» Ich schüttelte den Kopf. «Hatte sie Suizidgedanken?» «Nicht dass ich wüsste.»
So verlief der Rest des Gesprächs, er fragte, und ich hatte keine Ahnung. Als ich mich beim Hinausgehen erkundigte, ob die Polizei schon etwas wusste, tauschten wir unsere Rollen.

Helgoland besteht aus zwei Inseln. Da sind die Hauptinsel mit dem Dorf und den bunten Krabbenbuden und die Düneninsel, wo Seehunde und Kegelrobben ihre Jungen aufziehen.
Zur Düneninsel kommt man nur mit einem Motorboottaxi, das auch nur bei gutem Wetter fährt. Ich musste rennen, aber ich schaffte es gerade noch aufs Boot.
Die Stelle im Naturschutzgebiet hatte ich ein paar Wochen zuvor bekommen. Vorher hatte das Kai, der Sohn der Supermarktbesitzer gemacht, aber der war nach Hamburg gefahren, um sein Glück als Musiker zu versuchen. «Hamburg», hatte Tine gesagt und die Augen verdreht, als sei alleine der Gedanke ans Festland eine Beleidigung.
Für mich bedeutete das, dass ich die meisten Nachmittage nach der Schule auf der Düneninsel verbrachte. Meine Aufgabe war einfach. Aufpassen, dass alle Besucher sich an den Sicherheitsabstand zu den Tieren halten und am Strand nach angeschwemmtem Plastikmüll suchen.

An diesem Tag war die Böe so schroff, dass sich kaum jemand hierher verirrt hatte. Ich sass in den Dünen, so weit im Windschatten wie möglich, und sah den Robben zu, wie sie sich ungeschickt über den Sand bewegten. Der Anblick hatte etwas seltsam Beruhigendes.
Ein paar Mal war Tine auch hier gewesen. Wir hatten über die Schule oder den Ärger mit ihren Eltern gesprochen, und ich hatte die Robben beobachtet, während sie aufs Meer hinausschaute.
Dabei war mir immer die Geschichte eingefallen, dieses blöde, alte Märchen. Als ich nach der Befragung durch den Polizisten in den Dünen sass, ging es mir immer noch nicht aus dem Kopf.
«Tine!», rief ich probehalber gegen den Wind. Gleich mehrere Robben hoben müde die Köpfe, bevor sie sich wieder ganz aufs Herumliegen konzentrierten.

In Tines Lieblingsgeschichte ging es um Robben. Selkies, um genau zu sein.
Als wir noch auf der Grundschule waren, hatte sie mir sie immer wieder erzählt. Von den Feenwesen in Robbengestalt, die ihren Pelz abstreifen können, um als Mensch an Land zu gehen.
Von einem Fischer, der sich in eine Selkiefrau verliebte und ihren Pelz versteckte, damit sie bei ihm blieb. Sie lebten so lange zusammen, bis sie eines Tages ihren Pelz wiederfand und ins Meer zurückkehrte. So wie eigentlich jede Geschichte über die Wesen endet. Dabei war Tine immer besonders versessen auf die Tatsache, dass die Kinder einer solchen Beziehung Schwimmhäute zwischen den Fingern haben.

Ich glaube, die Geschichte hatte Tine mehr beeinflusst, als sie später zugeben wollte.
Sie hatte sich nie mit ihrer Mutter verstanden und fand, dass sie ihr kein bisschen ähnlich sah.
Wie um diesen Unterschied zu betonen, hatte sie sich mit vierzehn blaue und seetanggrüne Strähnen ins Haar gefärbt.
Manchmal war sie weit hinausgeschwommen, am liebsten bei Sturm. Das war auch, worauf die Ermittlung hinauslief. In ihrem Zimmer fehlte nichts ausser ihrer Tasche und einem Badeanzug.
Ich glaubte nicht, dass sie ertrunken war. Fuhr täglich zu den Robben hinaus und fügte neue Details zu der Szene im Sturm hinzu.

Die erste Postkarte kam an meinem achtzehnten Geburtstag, ein halbes Jahr nach Tines Verschwinden. Viele Grüsse von Bea aus Hamburg. Ich kannte zwar keine Bea, dafür aber nur eine Person, die jedes «i» mit einem Kringel verzierte. Ich betrachtete die Hamburger Skyline und fühlte mich unendlich naiv.
Gleich am nächsten Tag ging ich zum Supermarkt und bat Kais Eltern um seine Nummer. Als ich ihn nach Tine fragte, legte er sofort wieder auf.
Dafür fand ich seine Adresse auf Google Earth. Er lebte in einer Wohnung in der Nähe von St. Pauli. Ausserdem stiess ich auf die Website seiner Band. Bilder der Mitglieder gab es keine, als Name der Sängerin stand einfach nur Bea.

Wenn ich jetzt an sie denke, wird das Bild vom Sturm immer öfter von einer neuen Tine verdrängt. Von einer Tine, die morgens in ihrer kleinen Grossstadtwohnung aufwacht.
Die tagsüber Teller wäscht und nachts in einer Band singt.
Auch die Erinnerung an Tine in den Dünen hat sich verändert. Sie sieht nicht mehr auf das Meer hinaus, sondern auf das Festland, das irgendwo dahinter liegen muss.

An besonders grauen Tagen spiele ich manchmal mit dem Gedanken, die Fähre zu nehmen und mit dem nächsten Zug nach Hamburg zu fahren.
Aber dann denke ich an die Schwimmhäute zwischen ihren Fingern und bleibe.
Früher oder später wird sie zu den Dünen zurückkommen.