Jürg Burkhart
Verkauft
von Jürg Burkhart
Nie sei sie für Geld mit
einem Mann ins Bett gegangen. Wo sie es ihm gesagt hatte, wusste er
nicht mehr, nur dass es früh im Jahr gewesen war. Er hatte den Kampf um
die kurze Hose und Kniestrümpfe am Morgen jenes Tages gewonnen. Es waren die Tage, die damit begannen, dass er sich durchsetzten musste. Er
hasste die langen grauen wollenen Strumpfhosen und stritt vom ersten
Sonnenstrahl im Jahr an darum, dass er sich mit Kniestrümpfen und kurzer Hose kleiden konnte. Heute, in der Erinnerung daran, erstaunte ihn,
dass er sofort begriffen hatte, um was es ging. Er hatte geschwiegen,
war schweigend darüber hinweg gegangen, sie merkte wohl, dass sie eine
Dummheit begangen hatte, ihm so zu reden, und sie schwieg auch.
Die Hauptsache war, dass sie unschuldig war, rein vor dem Geld.
Vielleicht stimmte es ja auch, vielleicht war sie wirklich nie richtig
fremd gegangen, so mit allem drum und dran und für Geld.
Aber einmal war sie mit dabei gewesen. Nackt, nur mit Stöckelschuhen
bekleidet, türkis Velours. Sie war Verzierung und Beiwerk. Ihn hatte sie abgelegt und an den kalten entblössten Körper gedrückt. Die dünnen
Absätze ihrer Schuhe knallten auf den harten Boden, dass es ihn in den
Ohren schmerzte. Er sah sie nicht, er sah sich nicht, er sah nur diesen
anderen, der an den Busen der Leiche gedrückt war und den feinen,
durchdringenden, milchig-säuerlichen Geruch atmete. Das war nicht er,
der da lag, ausgeliefert, erniedrigte und wertlose, zuckende winzige
Masse Fleisch. Säuger an der Brust des Todes. Ein Menschlein, das
überlebte, trotz allem.
"Wenigstens bis heute", sagte er sich. Nur zu oft wusste er nicht, wozu
er das überlebt hatte und manchmal wünschte er, er wäre damals tot
gemacht worden, er und die Erinnerung. Es konnte ganz unerwartet
geschehen, dass seine Nase voll von Todesgestank war, seine Ohren
hallten und es ihm kalt war.
Er betrachtete sich, wie er zitternd dalag, selber fast kalt wie die
Leiche. Die Scheinwerfer blitzten auf, die Kameras klickten und surrten
und die fremden Stimmen und das Knallen der Absätze und die Tote neben
ihm, was taten sie mit ihm! Er war dann selber wie tot und vergass. Nur, er hatte überlebt, das mit dem Vergessen funktionierte später nicht
mehr. Er hatte nichts vergessen - bis heute nicht.
Die anderen Male wurde er nur noch hingebracht. Die Mutter verschwand
dann. Wer ihn zurück brachte, wusste er nicht, denn er hatte danach kein Bewusstsein mehr. Einmal banden sie ihn an den Hand- und Fussgelenken
fest und spannten die Stofffesseln diagonal zu den Ecken einer weissen
Fläche aus Stoff. Köpfe stiessen in den niedrigen schallisolierten Raum
auf sein Geschlecht los. Er hatte Angst und schrie. Doch die Schreie
schlugen gegen seine Ohren, zurück von den kahlen undurchdringbaren
Wänden. Die Ohren schmerzten. Vor Grausen schmerzende Blicke starrten in das Auge einer Kamera über ihm. Nirgends war ein Erbarmen. Erst als er
wie tot war, kalt und bewegungslos wurde er erlöst. Er hatte noch
gespürt, wie man ihn auf ein Lacken legte, wo er sich zusammenzog. So
blieb er gekrümmt liegen und starb.
Dieser Tod hatte ihn erlöst. Für eine Weile liess man von ihm ab, fast war er glücklich. Kalt war ihm.
Niemand der Familie hatte etwas gegen das Zubrot, wie sie es nannten,
schliesslich waren die Zeiten hart. Arbeit gab es wieder, aber bezahlt
wurde schlecht. Diese Leute waren anständig, man konnte ihnen trauen,
froh musste man sein für eine solche Quelle. Dem Kind geschah weiter
nichts, und es kam unbeschadet zurück.
Nein, sie hatte nicht sich verkauft.
"Diese Drecksau", schrie es in seinem Kopf.
Alle waren sie rein. Das Unrechte taten die anderen und das Schweigen
war vollkommen, undurchdringbar und hart wie Stein. Wie jener Stein von
den Bergen, von denen sie immer schwärmten. Wo sie hinfuhren, mit den
Kuppers, die ein grosses schwarzes amerikanisches Auto hatten und denen
er Tante und Onkel sagen musste. Manchmal besuchte man die falschen
Verwandten, wo Tee und süsses Gebäck serviert wurde. Er musste dann
gerade sitzen und die Hände auf den Tisch legen. Der falsche Onkel starb bald und übrig blieben die dicken beiden Tanten, Mutter und Tochter,
die ihn jedes Mal zur Begrüssung an ihre viel zu grossen schwabbeligen
Brüste drückten, dass ihm kalt wurde.