Katja Fusek
2003
ERSTER SCHNEE
von Katja Fusek
Als ich ans Fenster
trete, steht ein Auto unter der Strassenlampe. Ein dunkelblauer
Volkswagen, der mit der Nacht verschmilzt und sich doch von der weissen
Schneedecke abhebt. Seltener Schnee in dieser Stadt. Noch seltener der
Frost, der den Schnee rein und puderleicht erhält. Schneeflocken fallen
vom Abendhimmel, im Schein der Strassenlampe wirbeln sie leuchtend auf
und sinken in luftigen Sprüngen auf den nachtblauen Wagen herab.
Den ersten Schnee habe ich vor einem Jahr noch mit Mischa gefeiert. Wir
sind vor das Haus gestürzt, ohne Jacke und ohne Schal, wir lachten wie
damals, als wir noch ganz klein waren, und versuchten die schweren
Flocken mit der ausgestreckten Zunge zu fangen. Wenn ein Stückchen
Schnee in die offenen Augen fiel, war es nicht unangenehm, nur kalt, und wir blinzelten rasch, um den Wassertropfen aus dem Auge zu verbannen.
Mischas Frau trat aus dem Haus. Sie war mit Mantel und Kappe bekleidet
und hielt eine warme Jacke für Mischa in der Hand. Komm, rief Mischa und fasste seine Frau am Arm. Du wirst dich erkälten, sagte sie und liess
sich mitziehen auf die bepuderte Wiese, krallte sich aber an Mischas
Hand fest und war nicht sicher auf den Füssen wegen dem schneenassen
Gras und dem verrückten Tanz der Flocken. Sie hatte Angst, auszurutschen und zu stürzen, denn unter ihrem Wintermantel wölbte sich ihr Bauch.
Wenn die Flocken das Auto unter der Strassenlampe berühren, tauen sie
sofort. Zerfliessen zu kleinen Tropfen, die sich zu krummen Bächlein
sammeln. Die Motorhaube, die Fenster und das Dach sind noch warm. Im
Auto sitzen zwei Menschen. Ein Mann auf dem Beifahrersitz und eine Frau
am Steuer. Ich sehe sie deutlich hinter der Frontschutzscheibe. Wie zwei stumme Schauspieler werden sie vom Schein der Strassenlampe beleuchtet. Beide sind nicht mehr ganz jung, aber bei weitem noch nicht alt. Sie
reden kein Wort, starren vor sich in die tauenden Flocken, berühren sich weder mit dem Körper noch mit dem Blick. Sie sitzen reglos
nebeneinander.
Im Auto brachte mich Mischa zum Flughafen. Der Schnee hatte nicht
aufgehört zu fallen. Auf den Strassen wurde er zum schwarzen Brei
zerfahren und gegen die Passantenbeine gespritzt. Mischa trug meinen
Koffer, der schwer war von all den Sachen, die ich nach Singapur mitnahm und von denen ich glaubte, sie ein Jahr lang nicht vermissen zu können. Wenn ich zurück gekommen sein werde, im nächsten Winter, beim nächsten
Schnee, wird Mischas Kind, das kleine Menschlein in Annas Bauch, bereits sitzen und krabbeln können. Wir umarmten uns, küssten uns nicht, auch
als Kinder haben wir uns nie geküsst. Ich drückte meine Wange in Mischas Jacke. Sie fühlte sich an seiner Brust kalt und nass an, und dennoch
war Mischas Umarmung warm und kräftig. Ich schloss die Augen,
verabschiedete mich von Mischa und nahm ihn auch auf meine Reise mit. In die unbekannte, ferne Stadt, wohin mich für ein Jahr mein Arbeitgeber
geschickt hat.
Als ich die Passkontrolle passiert habe und meine durchleuchtete
Handtasche wieder vom Fliessband nahm, sah ich durch die Glaswand Mischa auf dem Gelände stehen. Auf einem weiten, leeren Betonboden. Er schaute zur Glaswand hoch, zum Gang, den ich durchqueren musste. Ich hätte ihn
fragen wollen, was er dort auf dem menschenleeren Flughafengelände
mache, warum er nicht längst im Auto auf dem Heimweg sitze, doch durch
die Glaswand, die uns trennte, konnte man sich nur mit Gesten
verständigen. Ich klebte mein Gesicht an die Scheibe und sah ihn an, wie er da stand und der Schnee auf seine Schultern fiel, in seine dunkeln
Haare. Ein trockener, harter, eisiger Schnee, der nicht taute, sich auf
seine Jacke und seinen Kopf legte, ohne dass es Mischa zu bemerken
schien. Er lächelte mir zu, etwas schief, sein Gesicht gefroren von der
eiskalten Bise. Ich hob meine Hand, es kamen mir Tränen, als würde ich
für immer Abschied nehmen. Hinter mir hörte ich eine spöttische Stimme:
Keine Angst, du wirst ihn bald wieder sehen, deinen kleinen Liebling.
Ich drehte mich um, und wutentbrannt sah in ein widerlich banales
Gesicht eines unbekannten Mannes, der sich mit seinem roten Pass in die
Handfläche klopfte. Ich wandte mich weg von ihm. An meinen Bruder und
mich kommt er nicht heran. Mischa wartete, bis ich beim
Boarding-Schalter meine Karte abgegeben habe, zum letzten Mal drehte ich mich um, er winkte mir zu. So schwer war es mir noch nie ums Herz
gewesen, ich stolperte die Treppe hinunter auf die Piste, wo der
Flughafenbus wartete. Meine erste lange Reise ins Ungewisse, an einen
Ort, den ich nicht kannte, und den ich zum ersten Mal in meinem Leben
nicht mit Mischa teilen würde. Mein kleiner Bruder blieb zurück, in
seiner Stadt, bei seiner Frau und seinem ungeborenen Kind.
Aus dem Autoinneren beginnt sich die Wärme zu verlieren. Der Schnee auf
dem Dach taut nicht mehr. Auf der Frontschutzscheibe zerfliessen die
Flocken nicht, sie rutschen nur hinab zu den Scheibenwischern und
bleiben dort liegen. Eine Schneeschicht fällt auf die andere, leicht und weiss, glitzernd im Licht der Strassenlampe. Ein immer dichter
werdender Schleier, der sich auf das Autofenster legt und die Insassen
vor meinen Blicken schützt. Da wird die Beifahrertür laut aufgestossen,
der Mann steigt aus. Bevor er die Tür ins Schloss fallen lässt, bleibt
er im frischen Schnee auf dem Trottoir stehen, schaut schweigend in den
Wagen hinein. Die Flocken legen sich ihm ins Haar und auf sein Gesicht,
er wischt sie nicht weg. Dann wirft er die Tür zu, dreht sich um und
verschwindet aus meinem Blickwinkel. In die Schneestille ertönt das
Geräusch des anfahrenden Motors. Ein dunkler rechteckiger Fleck bleibt
zurück auf der Strasse, genau unter der Lampe. Langsam beginnt ihn der
tanzende Schnee auszutilgen, bis die Strasse vom Fensterrahmen zum
Fensterrahmen sich unberührt weiss erstreckt und ich nicht die geringste Spur vom parkenden dunkelblauen Volkswagen entdecken kann.
Mischas Kind habe ich gesehen. Es konnte noch nicht sitzen und auch
nicht krabbeln. Es war winzig klein, ein Bündel, das mit den Händchen
wirr in der Luft fuchtelte und mit einem zerknirschten Gesichtchen, das
ununterbrochen Grimassen schnitt. Ich bin viel früher aus Singapur
zurückgekommen. Der letzte Schnee war erst getaut, die Krokusse blühten
in den Gärten. Mischa habe ich nicht mehr gesehen. Seine Frau zeigte mir die kleine, unpersönliche Zeitungsnotiz, die den schrecklichen
Autounfall knapp umschrieb. Ein Bericht, den man fast jeden Tag in der
Klatschspalte liest und den man, kaum ist das letzte Wort gelesen,
wieder vergisst. Anna sass mit dem Bündel auf dem Schoss und weder ich
noch sie wussten, wie es weitergehen sollte.