Kim de l'Horizon

2020

Santiago de Compostela liegt nicht am Meer


Beispielsweise habe ich „es“ dir nie offiziell gesagt. Ich kam einfach einmal geschminkt zum Kaffee, mit einer Schachtel „Lindt & Sprüngli“ (der mittelgrossen, nicht der kleinen wie üblich), oder dann später in einem Rock zum Weihnachtsessen. Ich wusste, oder nahm an, dass Mutter es dir gesagt hatte. „Es“. Sie hatte „es“ dir sagen müssen, weil ich „es“ dir nicht sagen konnte. Das gehörte zu den Dingen, die man sich nicht sagen konnte. Ich hatte „es“ Vater gesagt, Vater hatte „es“ Mutter gesagt, Mutter muss „es“ dir gesagt haben.

Andere Dinge, über die wir nie sprachen: Mutters riesiges Muttermal auf dem linken Handrücken, die Schwere, die Vater – wenn er von der Arbeit nach Hause kam – ins Haus schleppte, wie einen immensen, nassen, vermodernden toten Hirsch ins Haus schleppte, dein lautes Schmatzen, deinen Rassismus, deine Trauer um Grossvater, die bis heute andauert, deinen schlechten Geschmack, wenn es um Geschenke geht, die Liebhaberin, die Mutter hatte, als ich etwa sieben war, den silbrigen Ohrenring, den Mutter von ihrer Liebhaberin zum Abschied bekommen hatte, der wie eine lange Träne von Mutters Ohrläppchen bis fast an ihr Schlüsselbein reichte, als sie ihn noch anzog, um Vater zu provozieren, die unzähligen Stunden, die ich damit verbrachte – wenn ich mich unbeobachtet fühlte – den Ohrenring von einer Hand in die andere gleiten zu lassen, den Ohrenring so in die Sonne zu halten, dass er flammende Muster an die Wände warf, meine unendliche Lust, diesen Ohrenring anzuziehen, meine unsägliche innere Stimme, die mir das verbot, mein unendlicher Wunsch, einen Körper zu haben, Mutters unbändiger Wunsch danach, durch die Welt zu reisen, Mutters Wunsch, mich nicht geboren zu haben. Wir sprachen nie darüber, dass Mutter ihr Studium abgebrochen hatte, als ich auf die Welt kam. Wir sprachen nie über Politik oder Literatur oder die Klassengesellschaft oder Foucault und wir sprachen nie über die Zeichnungen, die ich als achtjähriger Junge im Gestaltungsunterricht gemacht habe, in denen ich meinen Körper zeichnete, einmal als Nebel, einmal als Schwan und einmal als zerbrechende Vase. Wir sprachen nie über Vaters Wünsche und wir sprachen nie darüber, dass du einen Bart gekriegt hast, als du mit Mutter schwanger warst, wir sprachen nie darüber, dass das Hirsutismus heisst, wir sprachen nie darüber, wie du das behandelt hast, ob du dich rasiert hast oder gelasert oder die dunklen Haare ausgerissen hast, ob du Antiandrogene nimmst, um das Testosteron – das dein Körper im Übermass produziert – zu unterbinden, und wir sprachen nie darüber, wie du angeschaut wurdest, wie sehr du dich geschämt haben musst, wir sprachen sowieso nie über Scham, nie über den Tod, nie über deinen Tod, nie über deine wachsende Vergesslichkeit, wir sprachen sehr oft über die Familienalben und über jedes einzelne der Bilder darin, allerdings sprachen wir nie darüber, wie lächerlich Grossvater auf diesen Fotos aussieht, die er mit seiner Burschenschaft aufgenommen hat, wie komisch sie ihre Brust plustern und breitbeinig in die Kamera grinsen, wir haben nie über das kleine Mädchen gesprochen, das bis zu einem gewissen Alter durch die Fotoalben geistert, meistens an deiner Hand, manchmal an einer der Hände deiner 5 Brüder. Wir sprachen nie darüber, ob es für andere Familien auch so anstrengend ist, so zu tun, als wären sie wie die anderen Familien, wir sprachen nie über Normalität, nie über Heteronormativität, Queerness, die sogenannte „dritte“ Welt und die geheimen Geflechte der Pilze, die viel grösser und feiner sind als unsere Vorstellung, wir sprachen nie über all die Wege, die diese Welt bereit hält, uns bereit hält, um vor sich selbst davonzulaufen, die gewundenen Wege, die im Schatten grosser Pappeln liegenden Wege, die öden, endlosen Wege, die diese Welt umspinnen wie ein Faden einen Fadenknäuel umspinnt, aber wir sprachen über die Wege, die alle zusammen „Jakobsweg“ heissen.

Vor einigen Wochen sassen wir auf dem Sofa, du hast mir eines der Fotoalben gezeigt. Ich habe mich gezwungen, dasselbe Interesse vorzutäuschen wie die letzten zehn Male, als du mir dieselben Fotos mit denselben Kommentaren erläutert hast. Wir schauten uns ein Foto deiner Mutter an, auf dem sie schwanger mit dir ist, ein Foto, das mich die ersten paar Male überrascht hat, weil da einfach so eine nackte Frau zu sehen ist, in einem kleinbürgerlichen Familienalbum aus den 50er Jahren. Plötzlich hast du deinen Redefluss unterbrochen, mich angeschaut und gefragt: „Warum bist du nie da?“ Und ich habe gesagt: „Ich weiss nicht.“ Und ich wusste es auch wirklich nicht.

Ich sitze hier an meinem Schreibtisch in Zürich, ich bin 26, es wird langsam dunkel, es ist einer dieser Abende, die noch Winterabende sind, aber man schon eine Vorahnung von Frühling riecht, ein samtiger Geruch; von Bodnant-Schneeballblüten, übertrieben süss und weissrosa; von Menschen, die wieder beginnen zu joggen und ihren Schweiss durch die viel zu sauberen Strassen tragen. Ich jogge nicht. Vor einem halben Jahr habe ich diesen ultralangweiligen Job im Staatsarchiv angenommen, ich stecke den ganzen Tag zwischen Regalen tief unter der Erde, katalogisiere Krankenakten längst verstorbener Patient*innen, ich spreche mit niemandem, bin zufrieden, bin unsichtbar, lasse mir die Haare wachsen, gehe nach Hause und setze mich hierhin, an meinen Schreibtisch, von wo aus ich die Buche im Nachbarsgarten sehen kann und sonst nicht viel. Ich schreibe. Und wenn ich nicht weiterkomme, treffe ich mich auf ein kurzes Sexdate, während dem ich meistens an nichts denke. Dann gehe ich wieder nach Hause, mit dem Samen noch in mir und dem Geruch von fremdem Mann an mir, ein warmes Gefühl in meiner leeren Mitte, das mich für die Dauer des Heimwegs auffüllt. Zuhause gehe ich aufs Klo, dann rasiere ich mich unter den Achseln, an den Beinen und im Schambereich, ich fürchte mich immer vor der Möglichkeit, nachts aufzuwachen und nach jemandem zu riechen, dessen Name ich nicht kenne, dann gehe ich nochmals aufs Klo, um auch die restlichen Samen aus mir zu entlassen, dann dusche ich, rubble mit einem Bimsschwamm meinen Körper ab, dann creme ich mich ein. Meine Haut ist irritiert vom vielen Rasieren. Dann setze ich mich zurück an den Schreibtisch, in das Blickfeld der Buche, und ich merke erst jetzt, dass ich schon die ganze Zeit an dich schreibe. Und wenn ich nicht schreibe, dann lese ich oder denke an die Möglichkeit, meinen Körper auf den Jakobsweg zu begeben, ich denke an die Möglichkeit zu gehen, bis ich an nichts mehr denke oder bis ich nach Santiago de Compostela gelange oder ans Meer, und ich denke an die Möglichkeit, das alles nicht zu tun.

In der Sprache, die ich von dir geerbt habe, in meiner Muttersprache also, heisst Mutter MEER. Man sagt DIE MEER oder MEINE MEER, aus dem Französischen abgeschielt. Für die Grossmutter dasselbe: DIE GROSSMEER. Die Frauen meiner Kindheit sind ein Element, ein Ozean. Ich erinnere mich an die Beine meiner Mutter, ich erinnere mich daran, sie zu umarmen, an ihr hochzuschauen und zu sagen: DU BIST MEINE MEER. Ich erinnere mich an ein Gefühl des Daheimseins und an ein Gefühl des Vollkommenumgebenseins. Die Liebe der Meere war so gross, man entkam ihr nicht, man entkommt ihr nicht, man schwimmt ein Leben lang, um aus den Meeren herauszukommen.

Man hatte sich einen Ausweg in die Meersprache getreten: Die Frauen waren Gegenstände. Anstelle von MEER verwendeten die Erwachsenen – auch die Mütter selbst – sächliche Artikel. Das Mami, das Mueti, das Grossmami, das Grosi. Aber nicht nur die Mütter, alle Frauen waren sächlich; das Anneli, das Lisbeth, das Regini. Und auch die Kinder waren Gegenstände, süsse und winzige Mokkalöffelchen: Das Mineli, das Hänneli, das Hansli. Ich erinnere mich, dass mich diese Vergegenständlichung wütend machte. Ich wollte kein Gegenstand sein, ich wollte ein Mensch sein und gross; und gross zu sein, bedeutete, ein Geschlecht zu haben, ein männliches. Als Frau drohte einem, dass man den Kindernamen nie ablegte. Die Frauen waren ein Gegenstand oder wurden ein Ozean. Damals wünschte sich zumindest ein Teil von mir ein Grosswerden und Mannwerden. Ein anderer Teil wollte das nicht.

Liebe Grossmeer. Wenn ich an dich denke, denke ich an all die Dinge, die wir uns nie sagen konnten und nie sagen können. Ich denke daran, dass du beginnst, alles zu vergessen. Du verschwindest. Ich denke daran, wie nahe ich mich dir fühle, wenn ich dir schreibe, und ich denke daran, wie fern ich mich dir fühle, wenn ich dich sehe. Wie du davon sprichst, einmal nach Santiago de Compostela zu gehen, wie glücklich das deine Mutter, Gott und Maria machen würde und wie du – nach dem langen, langen Weg, glückselig in den Atlantik springen würdest, mitsamt Kleidern. Ich denke daran, wie du ununterbrochen sprichst, von irgendetwas, von den Rabatten in der Migros, von den Tagen, an denen es doppelte Cumuluspunkte gibt. Deine Angst vor der Stille. Das Loch, das Grossvater – Grosspeer – immer noch ist. Ich erinnere mich daran, wie du mich – um nicht mit dem Verlust klarkommen zu müssen – ständig gehütet hast nach dem Tod von Grosspeer.

Ich erinnere mich daran, dass du nie ein Stück Brot wegwarfst. Wie ich immer hartes Brot bei dir essen musste. ES GIBT KEIN HARTES BROT, KEIN BROT IST HART. Wie das harte Brot zwischen deinen Zähnen krachte, wie du manchmal an deinem empfindlichen Zahnfleisch zu bluten angefangen hast. Wie du dann – erst wenn du geblutet hast – aufgestanden bist, Zunge auf dem Zahnfleisch, einen Teller mit Milch und einen Teller mit Ei und Salz und Pfeffer parat gemacht hast und Fotzelschnitten gemacht hast. Ich erinnere mich daran, wie du während dem Fotzelschnittenmachen kein Wort gesagt hast. Es war vielleicht das einzige Schweigen, das du hattest, dasjenige für die Fotzelschnitten. Ich erinnere mich, wie du die mit Enzianen bemalte Zuckerdose auf das rotweiss karierte Tischtuch gestellt hast; ein Erbstück deiner Grossmeer, das du schon sechs Mal geflickt hast. Der Leim bildete gelbliche Narben, die die Enziane zerstückelten. Darin das Mokkalöffelchen. Obwohl Fotzelschnitten das einzige Essen war, bei dem ich selbst Zucker nehmen durfte, mochte ich sie nicht. All das Brot, das dir gefehlt hatte. Ich erinnere mich, dass du die Fotzelschnitten in den Mund genommen hast, als sie noch viel zu heiss waren, und sie heruntergewürgt hast, in viel zu grossen Stücken. Ihre eiige, gelbliche Haut. Ich erinnere mich daran, dass ich dir schon immer sagen wollte, dass ich Fotzelschnitten nicht mag. Grossmeer, warum hast du so ein grosses Maul.

Wenn ich an dich denke, Grossmeer, dann denke ich an das Migrosrestaurant, in das du mich immer eingeladen hast, wenn du mich in ein „Restaurant“ einladen wolltest, ich denke an das Urmeer, dem die ersten Bakterien entsprangen, das ziemlich genau 37 Grad Celsius warm war, ich denke an Meer und das Leben, das sie für mich aufgegeben hat, und das Leben, das du für Meer aufgegeben hast, und ich denke an all die Texte, die ich dir nie geschrieben habe. In einem von ihnen geht eine bärtige Dame den ganzen Weg von Ostermundigen nach Santiago de Compostela und auf halbem Weg trifft sie einen jungen Menschen, auch mit Bart, mit breiten Schultern, tiefer Stimme, Rock und Kajal, und sie sprechen über nichts, sie gehen schweigend nebeneinander her, in Richtung Meer.