Marina Bolzli

2007

Déjà-Vu

von Marina Bolzli

„Gehen Sie schon bald?“, sagt die Frau zu mir und setzt schon an, ihre drei riesigen Einkaufstaschen, die zwei gaffenden Knirpse und ihren Arsch um meinen Tisch herum zu platzieren.
„Nein“, sage ich.
„Was, nein“, sagt sie.
„Ich gehe noch nicht bald“, sage ich.
„Ach so“, sagt sie, wirft einen langen Blick auf meine fast leere Kaffeetasse, erhebt dann nacheinander ihren Arsch, ihre beiden Knirpse und die drei Einkaufstaschen von den Stühlen.
„Kommt Kinder, wir suchen uns einen anderen Platz“, sagt sie und zieht die immer noch gaffenden Knirpse mit sich fort. Ich lächle und lehne mich ein bisschen weiter im Stuhl zurück.
Es ist noch früh. Sie kommt erst später. In einer Stunde vielleicht. Und setzt sich an den Tisch ganz am Rand. Genau gegenüber von mir, wie jeden Abend. Seit drei Tagen, seit ich zum ersten Mal hier war. Sie sitzt dort, trinkt Kaffee, liest Zeitung. Zuerst die Schlagzeilen, dann die hinterste Seite mit den vermischten Meldungen. Dann die Kulturseiten. Wirtschaft und Sport überblättert sie. Manchmal blickt sie flüchtig auf, mustert irgendeinen hereinkommenden Gast kurz von oben bis unten und senkt den Blick dann wieder auf die Zeitung. Das geht eine knappe Stunde so, dann legt sie die Zeitung zurück, bezahlt und geht raus.
Heute nicht. Heute wird alles anders werden. Es kann ihr ganz einfach nicht entgehen heute. Solche Zufälle gibt es gar nicht.
Sie wird von ihrer Lektüre aufsehen, ihr Blick wird kurz auf mir ruhen, sie wird stutzen, weil ihr die Situation bekannt vorkommt. Ich schaue sie an, lächle. Sie lächelt auch.
„Haben Sie schon vom Brand gehört, der gestern nur zwei Strassen von hier gewütet hat?“, frage ich.
Sie sagt nein.
Ich sage, „vielleicht steht was in ihrer Zeitung darüber, auf der hintersten Seite. Es soll gar Todesopfer gegeben haben.“
„Ach, ja“, sagt sie und blättert zurück.
„Und, was steht?“, sage ich.
Sie liest es mir vor.
„Beängstigend“, sage ich, „die Frau hat wirklich nur den Teekocher eingeschalten gelassen, während sie Duschen ging?“
„Ja“, sagt sie, „wissen Sie, ich mache das auch immer, viele Leute machen das.“
„Ich auch“, sage ich, „aber ich wollte Sie eigentlich gar nicht vom Zeitungslesen abhalten.“
„Ach, das stört mich überhaupt nicht. Im Gegenteil, setzen Sie sich zu mir.“
Eine kurze Pause.
„Sie kommen mir so bekannt vor, ist es möglich, dass wir uns kennen?“, sagt sie.
„Ich glaube nicht“, sage ich.
„Ist hier noch frei?“, unterbricht mich eine Stimme.
„Ja“, sage ich widerwillig und nehme meinen Mantel vom Stuhl gegenüber mir. Ein älterer Herr mit Gehstock setzt sich umständlich hin und breitet die Zeitung geräuschvoll vor sich aus. Er bestellt Kaffee und widmet sich der letzten Seite. Ich mustere ihn kurz und irritiert, er sitzt genau in meinem Blickfeld. „Gehen Sie schon bald?“, bin ich geneigt zu fragen, beherrsche mich dann aber und seufze nur ab und zu leise vor mich hin. Der alte Mann, der im übrigen den Kopf unnatürlich nah an die Zeitung ranhält, blickt ab und zu flüchtig auf und streift mich mit einem Blick. Ich tue so, als bemerkte ich nichts und hefte meinen Blick hoffnungsvoll an die Tür. Bald wird sie kommen.
„Haben Sie auch schon vom Brand gehört, der gestern nur zwei Strassen von hier gewütet hat?“, sagt er plötzlich.
Ich sage nein. Ich sage es widerwillig, denn das hat mir noch gefehlt.
Er sagt, „in meiner Zeitung steht etwas darüber, auf der hintersten Seite, es soll gar Todesopfer gegeben haben.“
„Ach ja“, sage ich.
„Da, lesen Sie selber“, sagt er und hält mir die Zeitung hin.
„Beängstigend, nicht?“, sagt er. „Die Frau hat wirklich nur den Teekocher eingeschalten gelassen, während sie Duschen ging.“
Ich nicke abwesend. Während ich am Lesen war, hat sich jemand an IHREN Tisch gesetzt. Ich sehe aber nicht, ob SIE es ist, da er immer noch in meinem Blickfeld sitzt.
„Eigentlich lasse ich mich ungern vom Zeitungslesen abhalten, aber Sie kommen mir so bekannt vor“, sagt er.
Ich blicke ihn irritiert an.
„Ich glaube nicht, dass wir uns kennen“, sage ich unwillig. Er schaut mich weiterhin an.
Es ist SIE. Soeben habe ich ihre Stimme erkannt, als sie Kaffee bestellte. Jetzt schlägt sie sicherlich die Zeitung auf, schaut kurz auf und hier käme mein Stichwort. Der alte Mann hört nicht auf, mich anzuschauen. Ich hole mein Mobiltelefon heraus und widme mich demonstrativ nur noch ihm. So nehme ich sie erst spät wahr. Sie steht tatsächlich an unserem Tisch.
„Gehen Sie schon bald?“, sagt sie und blickt abwechselnd den alten Mann und die Zeitung an.
„Nein“, sagt er.
„Ach so“, sagt sie.
Ich wende rasch meinen Blick ab. Ich wage es gar nicht mehr, die Augen zu heben, ich bin vor Verlegenheit sicherlich ganz rot angelaufen.
„Haben Sie auch schon vom Brand gehört, der gestern zwei Strassen von hier gewütet hat“, beginnt sie plötzlich wieder.
Der alte Mann nickt.
„In meiner Zeitung steht etwas darüber, auf der hintersten Seite“, sagt er, „es soll gar Todesopfer gegeben haben.“
„Ach ja?“, sagt sie interessiert.
„Lesen Sie selber“, sagt er und hält ihr die Zeitung hin.
„Beängstigend“, sagt er, „die Frau hat tatsächlich nur den Teekocher eingeschalten gelassen, während sie Duschen ging.“
Sie ist ganz bleich geworden.
„Ich mache das auch immer“, sagt sie. „Und wissen Sie, ich wohne gleich dort um die Ecke. Und gestern, als ich nach Hause kam...“ Ihre Stimme zittert. „Verzeihen Sie, ich wollte sie nicht vom Zeitungslesen abhalten“, sagt sie dann.
„Ach, das stört mich überhaupt nicht“, sagt er.
„Wollen Sie sich nicht zu mir setzen“, sagt sie und nimmt seine Kaffeetasse in die eine Hand, die Zeitung in die andere.
Als ich aufblicke, sitze ich wieder alleine am Tisch. Ich trinke den letzten Schluck meines inzwischen kalt gewordenen Kaffees.
Ich will gerade aufstehen, da kommen drei alte Frauen mit riesigen Einkaufstüten an meinen Tisch.
„Gehen Sie schon bald?“, sagen sie.
„Ja“, sage ich. Und beim Herausgehen vermeine ich zu hören, wie eine von ihnen von einem Brand spricht. Aber vielleicht habe ich mich auch geirrt.