Marta Piras

2018

Der Tag an dem sie sich dazu entscheidet in den Krieg zu ziehen

Oft, Uniformen ohne die Träger, heimgekehrt im Frühling, im April. Man wusch sie gründlich, fast brutal. Das Wasser war rot. Man hatte sie in Bäume gehängt, zum Trocknen und um die Nachbaren an ihre Pflichten zu mahnen. Man sass unter den Bäumen. Ein bisschen traurig, ein bisschen leer. Leere flatternde Kleider, waren die Urkunde eines Eids, eines gehaltenen Versprechens.
Sie hatte gewusst, wann sie dran war. Sie hatte unter flatternden Uniformen gesessen und ihre Tage gezählt.
An dem Tag, an dem sie sich dazu entschied, in den Krieg zu ziehen, war sie überzeugt davon, dass es das Richtige war. Es war eine Entscheidung gewesen, aber keine Wahl. Sie musste etwas dafür zurückgeben, dass sie bisher in Ruhe hatte leben dürfen.  

Sie schreitet allein in den windigen Tag, durch das Ausbildungsquartier, die Hand an der Waffe. Sie ist froh, ja beinahe glücklich darüber, so im Reinen zu sein.
Das ist der Moment, in dem er plötzlich um die Ecke biegt.
Sie kennt ihn flüchtig, von flüchtigen Blicken. Von Samtvorhängen und Selbstzweifeln verschluckte Worte. Kurz vor dem Höhepunkt unterbrochene Sprechfetzen.
Ihr Gruss ist diesmal frei, der Blick offen. Es ist der Gruss eines vom Glauben Abgekommenen, der nicht mehr eine goldene Ikone, sondern ein winziges Heiligenabziehbild und den Klingelbeutel vor sich sieht.
Sie wird diesen Mann nie wieder sehen. Aber er geht nicht weiter. Er geht nicht weiter. Er steht im Weg.  

Vor ihr steht er und er reisst seinen Brustkasten auf. Er greift mit seiner rechten Hand links hinein und legt ihr sein kleines, blaues Herz in die Hand. Es zittert erwartungsvoll. Er sagt: „Ich bin jetzt da.“ Sie lässt das blaue Herz fallen. Es windet sich im Staub und wimmert.  

„Das tut mir leid“, sagt sie. „Macht nichts“, sagt er.
Er hebt das Herz wieder auf, bläst den Staub weg und reibt es sich am Hemd ab, blaue Tintenflecken auf beigem Stoff. Das Hemd sieht mitgenommen aus, so fleckig und über der Brust ganz aufgerissen. Er bleibt unbeirrbar. Er geht nicht weiter. Die Strasse ist eng, sie ist eine Schlucht zwischen Häusern. Die blaue Tinte tropft auf den Boden. Er steht in einer immer grösseren Pfütze.  Die Tintenpfütze schreibt unentwegt Liebesgedichte, es sind bestimmt schon mehr als zwei Quadratmeter Lyrik auf dem staubigen Boden.  

Sie kann nicht weinen. Sie öffnet ihr Hemd, ihren Brustkasten.  Da ist nichts. „Ich habe es heute abgegeben. Petrolfarbenes Kästchen. Nummer achtundsiebzig. Ich brauche es nicht mehr. Ich habe mich heute entschieden, in den Krieg zu ziehen.“
„Wir gehen zur Nummer achtundsiebzig, holen es und gehen nach Hause. Man kann mit den Leuten reden.“
„Wie anmassend.“
„Gehen wir.“
„Nein.“  

Sie kann nicht weinen. Das ist gar nicht mehr möglich.  

Die Nummer achtundsiebzig erbebt kurz. Die Putzfrau erschrickt. Sie schlägt einmal gegen das Schliessfach. Dann ist Ruhe.  

Sie ist entschlossen gegangen. Er ist stehengeblieben. Niemand liebt so sehr, dass er sich nicht von einer Herzlosigkeit abschrecken lassen würde. Sie biegt in ihre Strasse ein, wo ihr Haus immer schon stand.
Aber neu ist, dass auf ihrer Hauswand in riesigen Lettern steht:
ICH BIN DA UND WEISS DASS DU DA  BIST.
In einer Ecke des überdachten Hauseinganges sieht sie eine Bewegung. Eine Katze spielt mit ausgefahrenen Krallen, liebkost und kratzt etwas Blaues. Dann wirft sie es hoch und fängt es samtig auf. Nagt gierig daran herum. Mit einer unkontrolliert panischen Bewegung springt sie auf die Katze zu.
Es ist nur ein blauer Vogel, mit gebrochenem Rückgrat. Ihr Briefkasten überquillt von Post. Wo ist er. Die Polizei kommt jetzt und hinter ihr mit Rotlicht die Anstreicher. Diese schultern ihre Farbrollen wie Gewehre und fangen an, die blaue Schrift auszuwalzen. Anzuschwärzen.
Dann mit weisser Farbe darüber. ICH BIN    UND WEISS DASS
ICH    UND  WEISS                           
              WEISS  

Nichts mehr.
Sie antwortet auf die Fragen der Polizisten. Sie weiss von nichts. Dann gibt sie ihnen den toten Vogel mit, zur fachgerechten Entsorgung.  

Die Polizisten steigen wieder in ihren Wagen. Die Anstreicher haben eine separate Fahrgelegenheit.
Es sind so viele Polizisten, dass sie sich gegenseitig die Beine auf den Schoss legen müssen.
An einem Fluss halten sie an. Wenn man vom Wasser aus beobachtet, wie die Polizisten aus dem Wagen steigen, haben ihre Bewegungen eine seltsame Wirkung. Ihr Strom scheint nicht zu enden. Männliche Gestalten, die sich auseinanderfalten, über ihre eingeschlafenen Glieder stolpern und weiterkriechen, während der Nächste ihnen schon auf die Fersen tritt, stolpert, weiterkriecht. Auf der anderen Seite des Flusses steigt Petarden- und Parolenrauch empor. Hochgeschreckte Enten fliegen auf.
„Die armen Vögel“, sagt einer der Polizisten. Legt an und trifft den Demonstranten genau dahin, wo sich bei ihm auf der Stirn die ersten Falten zeigen. Als hätten die Brauenfurchen zu ahnen begonnen, als sie sich immer und immer wieder dem gleichen Eindruck hingaben. In seinen Augen nistet nun keine Sorge mehr und ein Erpel fliegt erschreckt weiter, zu seinem Weibchen. Diesem wird er, nach Stockentenart, immer treu bleiben. Ihm macht’s der geknickte Polizist nach. Stapft durch das Schilf zu seinem Weibchen, seine Stiefel reichen kaum dazu, sich einen Weg zu bahnen. Er spürt das Klopfen rechter Hände auf den Schultern während seine Kollegen durch den Fluss wimmeln, dem Rauch entgegen.
Jetzt ist der Polizist einsam. Ein Fuchs rennt an ihm vorbei, ein Entenküken in der Schnauze. „Arme Vögel“, sagt der Polizist und weint, als er den Erpel schreien hört.  

Sie schaltet den Fernseher ein. An diesem Tag wurden siebenundachtzig Menschen verhaftet, unter Anderem wegen „unerlaubter Beschriftung nicht dafür konzipierter Gebäude“. Aber soviel sie den Fahndungsbildern entnehmen kann, ist er nicht darunter.
Dann kommt der Wetterbericht: Schnee. Nachher Werbung.
Sie denkt: Ich habe so viele Worte noch zu Gute. So viele Berührungen mit Fingerkuppen, mit Lippen. Wimpern, die mir sanft von den Augen weggewischt werden, damit ich sie wegpusten und mir was wünschen kann. Ich habe ein Recht auf so vieles. Darauf, zugedeckt zu werden wenn ich krank bin. Darauf, angerufen zu werden, wenn ich fern bin. Darauf, dass sich jemand freut, wenn ich meine Haare schneide oder auch, wenn ich sie wachsen lasse.  Sie geht in ihr Schlafzimmer. Ihr Bett ist voller blauer Tinte. Da liegt er. Sie erschrickt sich. Er spricht, er sagt etwas. Sie hört ihn gar nicht. Sein Herz liegt auf dem Nachttisch, es seufzt. Es ist fast vertrocknet. An den Ecken beginnt es zu bröckeln. So sieht es also aus, wenn man stirbt. Seine Stiefel beschmutzen die Bettwäsche.  

Sie denkt: Wie anmassend. Sie denkt: Ich kann nicht weinen. Sie denkt: Ist es wirklich immer so, im Leben. Sie denkt: Was mach ich jetzt. Sie denkt: Hilfe.  

Die Putzfrau wischt den Schaum von Nummer achtundsiebzig. Manchmal passiert das, ein letztes Überschäumen. Aber die Putzfrau kennt alle Putzmittel und Strategien. Das ist alles kein Problem.  

Die Anstreicher fahren durch die Strassen. Die Wände werden weiss, durch ihre Furcht, durch ihre grossen, weissen Farbtöpfe. Die Anstreicher haben mehr Platz in ihren Autos als die Polizisten. In ihren Autos ist es still. Die Strassen werden stumm, weil sie die Worte auf den Wänden löschen.  

Er liegt in der Tinte, in seinem Blut, und es tropft blau.
Liebeslyrik schreibt sich ein in ihren Fussboden. Meter um Meter bedecken die Worte ihre Fliesen, ihren Teppich, ihre Füsse. Ihre Zunge ist blau von seinem Blut. Sie zieht ihn aus, sie zieht sich aus.  

Sirenen schreien.
Die Putzfrau sabbert.
Tanzt Polka, rutscht aus. Bricht sich das Genick.
Erpel kommt nach Haus.
Post wird nicht gelesen.
Katze bleibt hungrig.    

Sie geht los. Es wird alles gut.
Sie geht schnell, es schneit. Sie hat ein Ziel, Nummer achtundsiebzig.
Vielleicht wird dann alles gut. Sie kennt sich mit solchen Dingen nicht aus.
Sie rennt, sie ist allein auf der Strasse.
Der Verkehr fliesst hinter ihr her.
Und dann plötzlich kein Boden mehr. Hände greifen unter ihre Arme.
Hände klopfen Schnee von ihren Schultern.
Münder sagen: „Willkommen Nummer achtundsiebzig.“
Der petrolfarbene Bus fährt weiter, sie sitzt drin.
Die Münder singen, der Bus rauscht und es gibt kein Entrinnen.
Sie schaut aus dem Fenster. Es wird nicht ganz dunkel, wegen dem Schnee.  

Die Stadt ist jetzt ganz weiss.
Die Anstreicher können nach Hause fahren.  

Auch die Polizisten fahren nach Hause. Sie schreiten über ihre Projektile, die liegen am Boden, wie Kiesel am Strand. Ein Polizist hat weisse Farbe an der Jacke. Er hat das Schild FRISCH GESTRICHEN nicht gesehen.  

Im Bett liegt er. Er wartet.
Er wartet so lange, bis er stirbt. Allein im Bett.
Im Fernsehen flimmert eine Werbung für Wegwerfbecher.  

Am Fluss schauen sich das Entenmännchen und der Fuchs in die Augen.
Der Fuchs sagt: „Ich bin satt.“
Der Erpel sagt: „Aber es lohnt sich doch für dich.“
Der Fuchs möchte nicht unanständig sein und deswegen schweigt er.
Der Erpel sagt: „Dann beiss mir wenigstens den Kopf ab. Ich bin so traurig.“
Der Fuchs sagt: „Mir kann das eigentlich egal sein. Ich habe einen vollen Bauch, einen warmen Bau und keine natürlichen Feinde auf dieser Welt.“
Der Erpel sagt nichts mehr. Er streckt dem Fuchs seinen Hals hin.
Da ist ein weisser Kragen zwischen den rostbraunen Federn. Und dahin beisst schlussendlich der mitleidige Fuchs. Dann spuckt er den Kopf des Erpels aus und geht, pfeifend, seines Wegs.