Niklaus Epp
2005
Der Schuhputzer
von Niklaus Epp
Er muss mich an meinen
Schuhen erkennen. Wartet, auf seinem Schemel vor dem Schuhputzkasten am
Eingang zur Gasse, wie der Denker von Rodin, den Kopf in die rechte Hand gestützt. Nur sein Blick, der ist anders. Es ist, als würde der sich
durch den Asphalt hindurch in ungeahnte Tiefen bohren. Der alte Mann
wühlt, so scheint mir, mit seinen Gedanken bis ins Innerste der Erde,
hindurch durch Gesteins- und glühende Magmaschichten, bis auf die andere Seite der Erde, hinauf durchs Meer, um im Himmel über Ozeanien die
frische Luft zu atmen.
Er, die Gasse und ich, wir funktionieren wie ein Automat. Jeden Morgen.
Die gleiche Zeremonie, die gleiche Perfektion. Ich trete aus dem Café
auf die Strasse. Da sitzt er. Mein Schuh putzender Philosoph.
Bewegungslos, in der Frische des Morgens. Kaum habe ich fünf Schritte in Richtung Gasse getan, kommt Leben in ihn. Er zieht die Hand unter dem
Kopf weg, greift nach der schwarzen Schuhcreme, schraubt den Deckel weg, stellt die Büchse auf den Schuhputzkasten, legt den Wolllappen auf sein Knie. Seinen Blick, den lässt er auf den Mittelpunkt der Erde
gerichtet. Noch nie sah ich sein Gesicht. Die Bürste in der Hand
erwartet er meine Schuhe.
"Vielleicht verrät mich mein Schatten", dachte ich anfangs. Aber der
Schatten ist es nicht. Er erkennt mich auch, wenn Wolken den Himmel
verhängen.
"Die Zeit, die Routine. Er weiss, wann ich das Café verlasse." Auch
diesen Gedanken gab ich auf. Der Mann funktioniert zu jeder Zeit. Sei es um acht, sei es um neun.
Ich bin nicht sein einziger Kunde. Öfters bleibe ich im Café noch
sitzen, warte, bis er die Arbeit für meinen Vorgänger erledigt hat.
Dabei beobachte ich ihn. Seine gebückte Haltung ändert er auch bei
seinen andern Kunden nicht. Da ist nur dieser kleine Unterschied. Bei
ihnen stellt er keine Schuhcremebüchse bereit, nimmt keine Bürste in die Hand, legt den Lappen nicht auf das Knie. Das tut er bei allen erst,
wenn sie vor ihm stehen.
"Er hat kaum noch Augenlicht", sagt der Kellner des Cafés. "Blind ist der praktisch, darum sitzt er so zerknittert dort."
Das glaube ich nicht. Wie könnte er mich denn erkennen? Er muss sehen.
Schielen. Unter seinem noch üppigen Haarschopf hervoräugen. Aber mehr
als ein paar Meter über den Platz oder gar über Schuhhöhe kommt sein
Blick bei seiner Kopfstellung nicht.
"Schwarze Schuhe, Ledersohlen", muss es in seinem Schädel pochen. Der
Impuls, um seinen Mechanismus in Bewegung zu bringen. Als würde man eine Münze einwerfen. "Achtung, fertig, los! Jetzt musst du seine schwarzen
Schuhe putzen!"
Grüsse ich ihn und schiebe den rechten Schuh vor ihm auf das Holz, springt seine Sprechautomatik an.
"Was wünscht der Herr?", fragt er dann mit rauer Stimme den
Schuhputzkasten. Jedes Mal. Dabei weiss er genau, was sich der Herr für
seine schwarzen Schuhe wünscht. Grussworte scheint er nicht zu kennen.
Nur fürs Schuhputzen, wird er lebendig. Er putzt gründlich. Achtsam,
kann man sagen. Ich kenne keinen Besseren in der Stadt. Er liebt das
Leder mehr als dessen Besitzer. Das gibt er einem zu spüren. Bürstet es
ohne grobe Bewegung, massiert die Creme wie bei einer erotischen Massage ins Leder, streichelt es abschliessend mit dem weichen Lappen.
"Fertig", sagt er in hörbar freundlicherer Stimme zu den glänzenden
Schuhen und streckt, wieder der Mechanik verfallend, wie ein Roboter
seine hohle Hand nach vorne über den Schuhputzkasten. Der Preis steht
auf einem Karton. Wasserverschmiert. Der Karton steckt in einer Ritze am Kasten. Die Münzen verschwinden in seiner Jackentasche, die Hand wird
wieder zur Stütze für den Kopf.
Ich sitze im Café. Schon den ganzen Morgen summe ich vor mich hin. Heute werde ich den Automaten durcheinander bringen!
"Neue Schuhe", summe ich.
Gestern habe ich sie bei Rapelli gekauft. Nicht billig. Sie sitzen
perfekt. Bestes Leder, auch die Sohle. Meine ersten braunen Schuhe. Ich
blinzle, vom Kaffeeduft gestreichelt, zwischen Vorhangspitzen und
Festerrahmen zur Ecke bei der Gasse. Noch sitzt er im Schatten. Schwarze Bronze, sein Blick, wie immer, dem Erdboden verfallen. Das Schmunzeln
kann ich mir nicht verkneifen.
"Diesmal erkennt er mich nicht."
Frische Luft strömt mir beim Verlassen des Cafés entgegen. Den Blick
nicht von ihm lassend, gehe ich in seine Richtung. Ein Schritt, zwei,
drei … Er greift nach der schwarzen Büchse, legt sie bereit. Ich stutze. Mich hat er erkannt. Aber die neuen Schuhe? Ich gehe weiter, lasse mir
meine Verblüffung nicht anmerken. Die Bürste liegt in seiner Hand.
Mein brauner Schuh schiebt sich über das Holz des Kastens, direkt neben
der schwarzen Schuhcreme unter sein Gesicht. Seine Achseln sacken
zusammen. Die Bürste fällt ihm aus der Hand. Sein Hals vergräbt sich
zwischen den Schultern, die Nase berührt beinahe den Schuh. Beide Hände
auf dem Leder, tastet er die Konturen ab. Fast ohne Berührung, als
streichle er über ein geliebtes Gesicht.
"Erstklassig", sagt er. "Man riecht es."
Er dreht den Kopf, richtet sich auf. Ich erstarre. Meine Schuhe scheinen auf Boden und Kasten angenagelt zu sein. Nur meine Lippen zittern. Noch nie sah ich in ein derart verstümmeltes Gesicht. Mit nur einem Auge.
Die linke Hälfte wie eine zerklüftete Felswand von Narben entstellt. Die Höhle des fehlenden Auges von Haut überwuchert. Trotzdem kann das
Gesicht lächeln.
"Wunderbare Schuhe, mein Herr", durchbricht er meine Erstarrung. "Jetzt
müssen Sie, den Schuhen zuliebe, nur noch richtig gehen lernen."
Mir bleibt nur das Starren auf dieses unbeschreibliche Gesicht. Was der Alte meint, verstehe ich nicht.
"Sie heben links die Sohle nicht richtig vom Boden ab. Nachziehen, das
tun sie. Das mögen Schuhe nicht. Tut dem Schuh weh. Ich spüre seinen
Schmerz in meinem Ohr."
Ich versuche zu nicken.
Das Lächeln auf seinem Gesicht verzieht sich. Sein Zeigefinger deutet
auf die wuchernde Haut, auf die Vertiefung, wo früher mal das Auge war.
"Krieg", erklärt er, als müsste er sich entschuldigen. "Splittergranate."
Ich stehe da. Sprachlos.
Sein Gesicht dreht sich von mir weg, der Kopf rettet sich in die ihm
angestammte Position. Die Bürste lässt er liegen. Sein Atem beschlägt
den Glanz meines Schuhs. Die paar Staubkörnchen wischt er mit dem Lappen weg.
Jahre sind seid dieser Begegnung vergangen. Fast jeden Tag besuche ich
ihn. Ich bemühe mich, den linken Schuh richtig vom Boden abzuheben.
Rolle die Sohle über den Asphalt, tänzle leichten Schrittes, versuche es mit allen möglichen Gangarten. Trotzdem erkennt er mich. Nach fünf
Schritten. Warum, das verrät er mir nicht. Und sein Kopf, dieser
steinalte, zerschossene Kopf, der bleibt der Erde zugewandt.
"Was wünscht der Herr?", fragt er den Schuhputzkasten.
"Nie mehr Krieg!", müsste ich vielleicht antworten. Aber ihm diese Worte zu sagen, das hab ich mich bis jetzt noch nicht getraut.