Sigrid Daenzer-Brandtner
Ich putze Häuser,
von Sigrid Daenzer-Brandtner
Wohnungen. Montag vormittag den Coiffeurladen, am Nachmittag die Wohnung der
Besitzerin. Dienstags zwei Wohnungen in der Innenstadt, im gleichen
Haus, zwei Paare um die vierzig, die sich kennen. Gute Nachbarschaft.
Von den einen an die anderen weiter vermittelt. So hat es immer am
besten funktioniert. Mittwoch bei einem alten Ehepaar, vormittags putzen und Ordnung machen, nachmittags Besorgungen. Donnerstag das Haus des
Augenarztes, am Nachmittag die Praxis. Freitag vormittag frei,
jedenfalls im Moment. Nachmittags eine Wohnung in einem Haus direkt am
See, eine wunderbare Aussicht, wenn man Zeit dafür hätte; natürlich
reiche Leute.
Bei dem Augenarzt bin ich nun schon seit acht Jahren. Und bei dem alten
Ehepaar seit fünf. Ich mache meine Arbeit ruhig, schnell und
gewissenhaft. Ich komme pünktlich und zuverlässig, und ich denke, die
Leute schätzen das. Ich stelle keine Fragen, und ich will auch nicht,
dass man mich viel fragt. Ich habe nichts zu erzählen. Ich komme nicht
deswegen. Ich komme, um zu arbeiten. Das ist alles, mehr erwarte ich
nicht. Den Arzt und die beiden Ehepaare sehe ich ohnehin fast nie, die
Besitzerin des Coiffeurladens auch nur selten. Bei der Familie am See
hüte ich manchmal auch noch abends das Kind, aber dann ist sonst niemand zu Hause, und der Kleine spricht noch nicht. Jedenfalls nicht so, dass
man sich unterhalten könnte. Regelmässig sehe ich nur das alte Ehepaar.
Sie ist ein schweigsamer Mensch, aber er redet gerne. Vor allem von
früher. Als er noch jung war und Ideale hatte und eine Zukunft. Und das
Land verteidigt hat, jedenfalls mitgeholfen. Fast tausend Tage
Aktivdienst. Frontwälle und Bunker. Die Grenze gesichert, so gut es nur
ging. Die Berge eine einzige Festung. Wir hätten gekämpft bis zum
letzten Mann. Gegen den Feind, gegen Hitler. Aber Fragen hat auch er nie gestellt, und ich bin froh darüber. Und zugleich ein wenig enttäuscht.
Aber was hatte ich denn erwartet. Was hatte ich erwartet, als ich
hergekommen war. Natürlich wusste er, aus welchem Land, aus welcher
Stadt. Und was dort geschehen war, zumindest ungefähr. Aber da war es
schon wieder Jahre her. Verblasst für die Welt und beinahe schon wieder
vergessen.
Manchmal tätschelt er mir die Hand: Sie machen ihre Arbeit gut, wir sind sehr froh, dass wir sie haben. Mehr nicht. Und erzählt weiter vom
Warten auf den Einmarsch, der dann doch nie kam, von den kalten Nächten, in denen er Wache schieben musste, von alten Kameraden. Setzen Sie sich zu mir, trinken wir einen Tee. Gut, sage ich, aber dann muss ich
weitermachen.
Ich putze Häuser, Wohnungen. Jetzt habe ich es gut, ich bin zufrieden.
Ein Zimmer für mich allein, fast eine kleine Wohnung, genügend Kleider
und zu essen, ein bisschen Vergnügen und Luxus dann und wann. Viel mehr
brauche ich nicht. Zwei, drei gute Freunde. Mit den Behörden habe ich
noch nie Ärger gehabt, zum Glück, in zehn Jahren keine einzige
Kontrolle. Ein Wunder eigentlich. Und doch wieder nicht: es gibt so
viele wie mich. Zweimal im Jahr fahre ich zurück, seit acht Jahren. Zwei Wochen zu Hause, ich sage noch immer zu Hause, das wird wohl so
bleiben, auch wenn vieles nicht mehr so wie früher ist. Nie mehr wie
früher sein kann. Sicher, der Schutt ist längst weggeräumt, die Häuser
wiederaufgebaut, und die Touristen kommen wieder. Aber die Toten kehren
nicht zurück. Natürlich hätte ich zurückgehen können. Aber ich habe es
nicht getan. Ich bin hier geblieben.
Ich putze Häuser, Wohnungen. Wenn die Leute zufrieden sind, bin ich es
auch. Wenn das Kind im Haus am See lacht, freue ich mich. Aber wenn es
begeistert zum Himmel zeigt, sobald es ein Flugzeug hört, kann ich noch
immer nicht lachen, selbst wenn es nur ein Passagierflugzeug ist. Und
wenn es später mit Pistolen oder Gewehren herumlaufen sollte oder gar
auf andere zielen, werde ich ihm die Waffe aus der Hand nehmen, es an
den Schultern packen, ihm fest in die Augen schauen und leise, aber
eindringlich sagen, dass das kein Spiel ist: Krieg. Und es wird nichts
begreifen, gar nichts, wie sie alle nichts begreifen und auch ich nichts begriffen habe - bis man es selbst erlebt.
Ich putze Häuser, Wohnungen. Ich bin zufrieden, was habe ich schon
erwarten können, ich bin geblieben, eine Fremde unter Fremden, eine von
vielen, von denen man nichts weiss und nie viel wissen wollte, ich habe
nichts zu erzählen, ich stelle keine Fragen, ich bin nur einfach da,
mehr nicht.