Regula Humm

2015

Im Prinzip

„Und jetzt?“, fragt der Timo. Er sitzt auf der roten Schaukelente. Sie ist auf einer grossen Feder fest geschraubt und die Feder irgendwo im Sand vom Sandkasten „Und jetzt weiss ich nicht weiter“ seufzt Luca. Irgendwo im Sandkasten ist auch ein Zahn von Luca. Timo hat ihn ihm früher einmal beim Spielen mit einem Plastikpanzer ausgehauen aber er hatte sowieso schon gewackelt „Du triefst ja“ „Die ist eine ganz spezielle, die Estelle“ „Nuttenname“ Luca gibt der Schaukelente einen Tritt, so dass Timo obendrauf laut lacht und sich an ihr festhält. Luca zieht sich die Kapuze von seiner Daunenjacke über den Kopf. An den Rändern hat sie schwarzes Fell. „Entspann dich“, findet Timo und zieht sich auch seine Kapuze über den Kopf. Ohne Fell. Dann dreht er für Luca einen Joint. „Merci“, macht Luca und saugt den Rauch ein. „Weisst du, die hat so alles. Hübsch ist sie und lustig und weiss, was sie will. Weisst du. Ich brauch eine, die weiss was sie will“ „Sie wird nicht die letzte sein. Meiner Erfahrung nach wissen die meisten Frauen viel zu gut, was sie wollen. Setz dich hin. Du machst mich ganz nervös, wenn du so stehst“ Luca setzt sich auf’s Ende der bleichgrünen Rutschbahn. Aus der Tasche von seiner Daunenjacke zieht er einen wasserfesten Filzstift und fängt an, damit auf der Rutschbahn herum zu schreibzeichnen. Timo hält ihm den Rest vom Joint hin. „Ich muss nachher noch fit sein“ „Merci“, macht Luca wieder und steckt sich den Joint mit Daumen und Zeigefinger zwischen die Lippen. „Bewerbung schreiben. Detailhandel“ Luca schnaubt. „Äpfel polieren und so“ „Jep. So ein Delikatessenhändler“ Luca lacht und steht auf. Den Filter vom Joint lässt er in den Sand fallen, seine Handfläche in die von Timo. „Die nehmen nur einen Lehrling alle zwei Jahre“ „Bis später“   Der Spielplatz mit der Rutschbahn und der roten Schaukelente steht in der Mitte von vier Wohnhochhäusern. Jedes ist sieben Stöcke hoch und aus dunkelbraunen Backsteinen und dunkelgrünen Storen und oben Flach mit Moos drauf aber das sieht man nicht Es ist möglich, dass die Storen und die Backsteine früher mal hellgrün und hellbraun gewesen sind aber da waren Timo und Luca halt noch nicht auf der Welt Man kann nie wissen Luca wohnt im ersten Stock von der Nummer 24. Timo im zweiten Stock von der Nummer 22. Bei Luca zuhause schmeckt es nach Lauch und Speck. Wahrscheinlich gibt es dazu Herdäpfel. „Ich bin’s“, ruft Luca und lässt die Tür hinter sich zufallen, bevor Mama antworten kann. Von seinem Bett aus kann er alle Poster in seinem Zimmer sehen. Auf den meisten sind Töffs abgebildet. Manchmal liegt darauf eine Frau. Auf einem Poster ist eine Band fotografiert, auch wenn Luca ihre Musik schon lange nicht mehr gehört  hat.   Estelle zieht den durchsichtigen Regenschutz über den Kinderwagen, im Treppenhaus Miro ist nicht ihr Kind - ihr kleiner Bruder - Halbbruder „Dadada“ macht er und „tell“ Tell sagt Miro zu Estelle Estelle sagt Estelle zu sich, weil es schön tönt. Exotisch Sie heisst eigentlich nicht so sondern Lisa Sie zieht die schwere Haustüre aus Glas und Metall an dem schwarzen Viereck auf, es ist so etwas wie eine Türfalle, aber man kann es nicht nach unten drücken Draussen, rechts von wenn man aus der Tür kommt, sind die Briefkästen Estelle drückt die Klappe vom Brieffach nach innen Keine Post „Dadada“ wieder und Estelle schiebt Miro in den Nieselregen Es fängt schon an, dunkel zu werden und Estelle’s Zehen haben kalt in den Turnschuhen - sie will Teigwaren einkaufen, es soll Teigwarengratin geben später Estelle steckt ein Kauspielzeug in Miro’s Mund, damit er kurz still ist weil Luca auf dem Spielplatz zwischen den Wohnhochhäusern steht und Estelle möchte nicht mit ihm reden müssen wegen gestern Er hatte geweint - Luca - und Estelle hatte nicht gewusst, was sie sagen könnte. Sie schiebt den Reissverschluss von ihrer Jacke mit einer Hand weiter nach oben und zieht sich die Kapuze von ihrem Pulli über den Kopf die andere Hand ist am Kinderwagen und Miro macht Dadada weil er das Kauspielzeug langweilig findet Estelle läuft schnell um das Wohnhochhaus herum auf dem Weg aus dunkelgrauen Backsteinen und dann in Richtung Einkaufszentrum bei der Autobahn   Timo steht am Busbahnhof obwohl erst in siebenundzwanzig Minuten ein Bus kommt. Zwei Buschauffeure stehen vor dem Kiosk und rauchen. Er hat einen Plastiksack mit seiner Bewerbung als Delikatessenverkäufer drin dabei. Er will sie in den Briefkasten werfen und hofft, dass er dann dieses Mal zu einem Vorstellungsgespräch gehen kann mit einem weissen Hemd und nicht mit Turnschuhen. Neben dem Kiosk ist ein Bäcker - im Schaufenster stehen Torten aus Plastik oder Karton, die Storen sind voll ausgefahren, obwohl es nieselregnet sie sind Orange und Braun gestreift Timo zieht sein Handy aus der Hosentasche. Die Ohrstöpsel haben sich verwickelt. Er steckt sich einen davon in ein Ohr. Ein bisschen abseits vom Busbahnhof steht ein roter Bus, auf der Anzeigetafel steht Pause. Daneben ist eine dampfende Kaffeetasse abgebildet. Eigentlich müsste es eine rauchende Zigarette sein aber egal Die beiden Buschauffeure lachen und drücken ihre Zigaretten aus Vielleicht werde ich Buschauffeur, überlegt Timo und zieht sich die Mütze aus der Stirn Da hat sich ein Pickel gebildet. Die Haut spannt Eine Katze fängt an, um Timo’s grosse weisse Turnschuhe mit Schuhbendeln und Klettverschluss zu streichen. Sie lässt sich nicht wegschicken streicht immer weiter in einer acht, möglicherweise unendlich - Timo bückt sich und nimmt die Katze auf den Arm - wenn er sie jetzt fallen lassen würde, dann würde sie auf den Füssen landen - vorher vielleicht kurz so einen schrillen Katzenton machen aber dann auf allen vier Füssen - oder Pfoten oder was - landen   Estelle macht Hausaufgaben sie möchte vielleicht Englischlehrerin werden oder Biologielehrerin im Moment löst sie noch Mathematikaufgaben Miro steht in seinem Gitterbettchen „Dadada“ Miro findet Mathematikaufgaben langweilig und seine Stofftiere auch - er möchte lieber etwas spielen „Tell“ oder eine Geschichte erzählt bekommen Estelle macht „Psssst“ zum Gitterbettchen aber sie schaut Miro dabei nicht an sie löst Mathematikaufgaben Miro fängt an zu weinen laut und Estelle steht auf und holt eine Saugflasche mit Fruchtsaft aus der Küche - mit Wasser verdünnt Das findet Miro schon besser - er trinkt den Fruchtsaft mit Wasser verdünnt und ist still und Estelle löst noch eine Mathematikaufgabe aber sie kann sich nicht konzentrieren weil das ja schon auch blöd ist für Miro so den ganzen Nachmittag drinnen und draussen scheint die Sonne und überall ist alles voll bunter Herbstblätter und die Mathematikaufgaben können ja wirklich auch noch warten bis Miro schläft Sie bückt sich über das Holzgitter vom Gitterbettchen und Miro macht „Tell“ und dann nimmt Estelle Miro auf den Arm und packt ihn warm ein in seine Jacke und Mütze und mit einer Decke in den Kinderwagen heute ohne Regenschutz Der Spielplatz in der Mitte von den Wohnhochhäusern ist leer, Luca und Timo sind nicht da   Luca und Timo sitzen bei Luca im Zimmer zwischen den Postern mit den Töffs und Frauen drauf und zocken Unter der Zimmertür kommt ein Geruch ins Zimmer durch - es riecht nach Sauerkraut, vielleicht mit Speck dazu - man kann nie wissen Luca und Timo schiessen Aliens tot und trinken Bier aus dem Kühlschrank bei Timo zu Hause 34:25 steht es Luca war schonmal besser im Aliens tot schiessen - heute ist nicht sein Tag, er ist deprimiert wegen Estelle und Timo gewinnt „Du bist schlecht heute“ fällt es Timo auf „Ich bin deprimiert wegen Estelle“ „Klar. Pussy.“ sagt Timo und zielt 35:25 „Hör auf rum zu heulen“ 35:26 Luca ist wütend weil Timo keine Ahnung hat „Du hast keine Ahnung“ 35:26 35:27 „Klar hab ich Ahnung 35:28 aber ich heul wegen dem nicht den ganzen Tag einer Tussi nach“ Timo will den letzten Schluck aus seiner Bierflasche trinken aber er hat sie schon ausgetrunken 35:29 „Leck mich“ Der Bildschirm färbt sich jetzt rot von oben nach unten „Ey Wichser!“ Timo ist genervt und steht auf und dann tritt er Luca in den Oberschenkel „werd normal“ sagt er laut und knallt Luca’s Zimmertür hinter sich zu Luca bleibt sitzen vor dem Bildschirm und schiesst noch mehr Aliens tot eines nach dem andern und dann wirft er Timo’s Bierflasche gegen die Wand aber mit zu wenig Kraft und sie landet unter der Wand auf seinem Kopfkissen und nichts geht kaputt   Timo ist schnell die Treppe vom ersten Stock im Wohnhochhaus 24 herunter gesprungen Er zieht die Tür aus Glas und Metall an dem schwarzen Viereck auf für ihn ist die Tür nicht so schwer wie für Estelle Alle vier Wohnhochhäuser haben die gleiche Tür und draussen rechts wenn man aus der Tür kommt die gleichen Briefkästen und in der Mitte von den vier Wohnhochhäusern ist der Spielplatz Miro sitzt auf der roten Schaukelente und quieckt „Dadada!!“ und Estelle hält in vorsichtig fest Miro ist begeistert Timo ist wütend auf Estelle weil Luca deprimiert ist und Aliens totschiesst wie so ein Irrer Er geht auf dem dunkelgrauen Weg in Richtung vom Spielplatz und man hört seine weissen grossen Turnschuhe bei jedem Schritt über die dunkelgrauen Backsteine ziehen weil sie halt ein bisschen zu gross sind „Hey“ macht Estelle Timo steht vor ihr im Sand vom Sandkasten aber er sagt nichts und starrt Miro an auf der roten Schaukelente „Dadada“ Miro streckt Timo eine Hand hin und schaut ihn fest an und Timo’s Hand streckt sich plötzlich auch aus wie von alleine und Miro packt einen Finger von Timo und lacht „Das macht er nicht bei allen. Er findet dich sympathisch. Kompliment.“ Timo gibt Estelle keine Antwort aber er setzt sich auf die kleine Mauer vom Sandkasten und fängt an, eine Zigarette zu rauchen Estelle nimmt Miro auf den Arm, Miro zieht an Estelles langen blonden Haaren „Er ist ganz schön im Arsch“ „Tut mir leid, das wollte ich so nicht … ich wollte nur nicht mit ihm zusammen sein …“ „Wieso?“ „Was geht dich das an?“ Estelle setzt Miro in den Sand, weil sie sich jetzt die Haare zu einem Pferdeschwanz bindet „Ich mein der Luca ist doch ein geiler Typ“ „Hat er eine Lehrstelle jetzt?“ „Glaub noch nicht nein“ „Bewerbungen?“ „Nö“ Estelle lacht gemein und sieht trotzdem schön aus - findet Timo - und dann nimmt sie Miro wieder aus dem Sand und klopft ihm den Sand vom Hintern und packt ihn in den Kinderwagen „Ich hab mich gestern bei einem Delikatessengeschäft beworben“ „Viel Glück“.