Adolf Muschg

Adolf Muschg, geboren 1934 in Zürich. War unter anderem Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH (1970 – 1999) und von 2003 – 2006 Präsident der Akademie der Künste in Berlin. Für sein umfangreiches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Büchner-Preis und zuletzt mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2015. (2016)
Oeuvres (Selection)
Die japanische Tasche.
C. H. Beck Verlag, 2015
Im Erlebensfall.
C. H. Beck Verlag, 2014
Wenn es ein Glück ist.
Suhrkamp Verlag, 2008
Gehen kann ich allein.
Suhrkamp Verlag, 2003
Sutters Glück.
Suhrkamp Verlag, 2001
O mein Heimatland!.
Suhrkamp Verlag, 1998
Der rote Ritter.
Suhrkamp Verlag, 1993
Zeichenverschiebung.
1991
Nacht im Schwan.
1990
Deshima.
1988
Das Licht und der Schlüssel.
1984
Im Sommer des Hasen.
Suhrkamp Verlag, 1965
Die japanische Tasche
C. H. Beck Verlag, 2015
Der ebenso liebenswerte wie eigenwillige Historiker Beat Schneider hat etwas Unverzeihliches getan und das führt dazu, dass ihn seine Frau, die er über alles liebt, verlässt. Eine japanische Tasche ist ihm von ihr geblieben – doch er verliert sie. Am Schluss taucht sie wieder auf, verdoppelt sich gar und soll zurück nach Japan. Zeichen und Wunder geschehen in diesem Roman, der allein durch seine Stofffülle imponiert und erst recht wegen der Umsicht und Brillanz, mit denen der Autor diese Fülle bewältigt.
De: Adolf Muschg. Die japanische Tasche. C. H. Beck Verlag, 2015
Emil, Sie nehmen mich auf den Arm.
Dafür bin ich nicht mehr jung genug. Aber im Alter lauscht man Wörtern nach, und dem Wortlaut. Warum sollte ich denn hinfahren? Da haben Sie viel gefragt – daraus könnte sich auch ein Kirchenlied was machen. Das haben nicht nur Sie gesagt, Singvogel – darin höre ich die Musik der Welt, und ihre Melodie namens Vergänglichkeit.
Warum nennen Sie mich Singvogel?
Warum nicht?
Weil es mein Übername war, in der Schule, unter dem ich gelitten habe. Für meine Stimme konnte ich nichts.
Ve, 06.05.16, 18:00
Im Erlebensfall
C. H. Beck Verlag, 2014
Politische Verantwortung und kulturelles Gedächtnis, literarischer Diskurs und Wachsamkeit für gesellschaftlichen Wandel; für Adolf Muschg gehört das zusammen. In seinen Essays erweist er sich als Meister des kritischen Denkens. Aus Anlass seines 80. Geburtstags erscheint eine neue Auswahl von Versuchen und Reden. Die «Erfahrung des Wegs» ist es, worauf es ihm ankommt.
De: Adolf Muschg. Im Erlebensfall. C. H. Beck Verlag, 2014
Als ich zu lesen anfing, brach gerade ein Weltkrieg aus, und ich lernte gross schreiben, was mit Militär und Uniform zusammenhing. Unsere Soldaten waren nicht im Krieg, aber sie übten ihn um-so ernsthafter, und ich konnte die Farben ihrer Kragenspiegel auswendig: Infan-terie grün, Artillerie rot, Kavallerie gelb, Sanität blau, Generalstab schwarz. Die GENIE-Truppen zeigten ein fast schwarzes Dunkelblau mit gelben Symbolen. Im Pestalozzikalender, den damals jeder junge Schweizer zu Weihnachten geschenkt bekam, war ich einzelnen Genies begegnet: Goethe, Leonardo da Vinci oder Edison. Aber was taten sie beim Militär?
Di, 01.06.14, 15:00
Wenn es ein Glück ist
Suhrkamp Verlag, 2008
Seit dem fulminanten Debüt mit dem Japan-Roman „Im Sommer des Hasen“ 1965 findet Adolf Muschgs Stimme in Literatur, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft weit über die Schweiz hinaus Gehör. In diesem Frühjahr sind unter dem Titel „Wenn es ein Glück ist“ Liebesgeschichten aus vier Jahrzehnten erschienen, im Herbst folgt ein neuer Roman. Und wie wenige andere beherrscht Muschg die politische Debatte. „Die Schweiz am Ende — Am Ende die Schweiz“ (1990) und „Was ist europäisch? Reden für einen gastlichen Erdteil“ (2005) — diese beiden Buchtitel zeigen die Spannweite von Muschgs Auseinandersetzung mit den Gegenwartsfragen.
De: Adolf Muschg. Wenn es ein Glück ist. Suhrkamp Verlag, 2008
Wenn dieser Brief bei Ihnen ankommt, lebe ich nicht mehr. Hiermit erkläre ich, dass dieser Tod mein eigener Entschluss war, den ich aus freiem Willen und mit vollem Bewusstsein gefasst habe. Den letzten Schritt werde ich selbst tun. Doch möchte ich bei der Vorbereitung die Hilfe eines Freundes, Herrn Klaus Marbach, nicht entbehren, Dazu hätte er sich ohne mein Verlangen nie bereitgefunden. Um so mehr liegt mir daran, ihn von den Folgen meiner Tat zu entlasten, und ich bitte Sie, auch juristisch alles vorzukehren, dass ich als die für ihren Tod, wie auch ihr Leben, Alleinverantwortliche behandelt werde.
Sa, 03.05.08, 20:30
Di, 04.05.08, 15:00
Aus: Duende, im Erzählungsband «Gehen kann ich allein», erscheint im Herbst 2003
Suhrkamp Verlag, 2003
De: Adolf Muschg. Gehen kann ich allein. Suhrkamp Verlag, 2003
Eins, zwei, drei, Sie können reden, Frau Schnippenkötter, Band läuft.
Einszweidrei, so läuft das nicht bei mir. Ich bin eine Señora. Als Frau Schnippenkötter wäre ich keine geworden. Wie ich ihn kennengelernt habe? Er hat mich kennengelernt, mein Gatte Schnippenkötter, Curd, mit weichem D. Dafür, was Sie mit der Kleinen gemacht haben, gibt es zehn Jahre Zuchthaus, danach Landesverweisung, und Ihre Praxis können Sie vergessen. Die Kleine war ich. Klein bin ich auch noch mit fünfzig. So alt war er damals schon, und schon in Berlin hat er Frauen von sich abhängig gemacht. Erst als er seines Lebens nicht mehr sicher war, floh er in die Schweiz. Er schrieb Gutachten fürs Sozialamt. Als ich ihm zugeteilt wurde, hatte er die Niederlassung noch nicht. Unzucht in Ehren, aber mit Abhängigen nicht. Wenn ich erzähle, was Sie unter einem besonderen Gewaltverhältnis verstehen, dann ist fertig lustig mit Ihrem Weltruhm. Da wurde er weiss, so weiss hat ihn erst wieder die Gerichtsmedizin gesehen.
Jetzt rauche ich. Danke.
Ve, 30.05.03, 15:00
Sutters Glück
Suhrkamp Verlag, 2001
De: Adolf Muschg. Sutters Glück. Suhrkamp Verlag, 2001
Der erste Anruf kam am 2. November, auf den Tag genau fünf Wochen nach dem Tod seiner Frau. Zwischen beiden Ereignissen hatte Sutter keinen Zusammenhang hergestellt. Doch die Uhrzeit – 23 Uhr 17 – blieb haften, denn der Anruf wiederholte sich in der folgenden Nacht auf die Minute genau, und seither hätte Sutter die Uhr danach richten können.
Das war im Wohnzimmer nicht nötig, denn die Uhr an der Wand, auf die er das erste Mal erstaunt, dann ärgerlich geblickt hatte, richtete ihren Gang sekundengenau nach einem Impuls, den sie, laut Gebrauchsanweisung, aus der Gegend von Frankfurt empfing, also über eine Entfernung von 500 Kilometern. Ruth hatte, gegen alle Gewohnheit, das Spielzeug von einem Versandhaus bestellt, vielleicht weil die zuverlässige Pedanterie seiner Zeitmessung angesichts der Frist, die ihr blieb, etwas Belustigendes hatte.
Als es läutete, sass Sutter im Märchensessel. Das Erbstück von Ruths Tante hatte seinen Namen, weil sich die Kranke auf ihm einrichtete, wenn er Märchen vorlas, Abend für Abend, um ihr die Angst vor der Nacht zu nehmen. Oft konnte er dafür sorgen, dass sie schon in diesem Sessel ein leichter Schlaf überraschte, der mit keinem Medikament herbeizulocken war. Die massiven, die ihr der Arzt verschrieben hatte, lehnte sie ab: Ich will keinen Todesschlaf, bevor ich tot bin.
Sa, 26.05.01, 09:00
O mein Heimatland!
Suhrkamp Verlag, 1998
De: Adolf Muschg. O mein Heimatland!. Suhrkamp Verlag, 1998
Aber auch diesem Gott meines Vaters durfte die Alleinerziehende nichts schuldig bleiben. Sie beschwor ihn in jedem ihrer Briefe, die sie mir ins Internat und später ins Ausland zugehen liess. Als ich zum ersten Mal nach Amerika flog und schon in der Reihe zur Passkontrolle stand, rief sie mir durch die ganze Halle nach: Bueb, vergiss de Höchscht nid! Gewiss kam keiner der übrigen Wartenden auf die Idee, sie könnte damit jemand anderes als meinen Vorgesetzten gemeint haben. Und so war es ja auch. Der Verkehr mit Gott war eine Sache unter Männern. Sollen wir den Männern auch das noch abnehmen? Diese Männer, bis hinauf zum „Höchsten“, hatten ihr schon Elend genug gebracht. Leider waren die Frauen, nach ihrer traurigen Überzeugung, um nichts besser, denn sie schämten sich nicht, die Triebe der Männer zu benützen. Dagegen war diesen nur noch durch Gott zu helfen, und ihn musste ich ihr warmhalten und mir zum Vorbild nehmen. Für die wahre Liebe hielt man sich am besten an Seinen Sohn.
Je älter und schwächer sie wurde, desto weniger erinnerte sie sich freilich an diese Männerwirtschaft. Und als es ans Sterben ging, war von Gott keine Rede mehr, und auch nicht von mir.
Di, 16.05.99, 14:15
Der rote Ritter
Suhrkamp Verlag, 1993
De: Adolf Muschg. Der rote Ritter. Suhrkamp Verlag, 1993
Und je weiter Parzivâl las, desto besser konnte er sehen. Er sah, dass die Erde im Innern ja auch nichts anderes war als ein Buch. An dieser bedeutenden Stelle kehrte ihm das Buch den Buchschnitt entgegen. Der Fluss, der ihn eröffnet hatte, musste auch die stumme Seite gelesen haben, die quer lag zu allem, was Menschen lesen und beschreiben. Dieser Lektüre widmete sich die Rabbîne nun schon seit Jahrtausenden und hatte sich immer weiter hinein vertieft. Ihre Arbeit gab zwar einen Begriff von der Mächtigkeit des Buches, aber nicht den leisesten von seinem Inhalt: der blieb verschlossen. Die gewaltigen Bänder und Streifen, die Parzivâl zu entziffern suchte, waren selbst das Ergebnis einer elementaren Lektüre, und der Fluss in der Tiefe setzte sie flüsternd fort bis ans Ende der Welt.
Parzivâl wurden die Augen geöffnet. Er sah, N wie Natur war nicht nur ein Buch sie war auch ihr eigener Leser, von Ewigkeit zu Ewigkeit, und der Text, zu dem sie dabei wurde, war für keinen andern Leser bestimmt. Ihm, dem Wanderer an der Oberfläche, lag nur die oberste Seite dieses Buches offen. Das war das Deck und Schaublatt der Erde, ihre Titelseite. Darauf war dies und jenes zu entziffern die Erde für sich. Die übrigen Elemente, Feuer, Wasser, Luft, versuchten sich durch diese Oberfläche tiefer zu arbeiten und gruben ihr dabei ihre eigenen Lesarten ein: sie zerrten und bohrten wohl an dem Buch, aber umzublättern vermochten sie auch nicht eine Seite davon. Und doch: welche Schönschrift wurde allein aus dem unendlichen Versuch! Eigentlich war die Hochebene nichts als ein weites verdorrtes Feld, über das man in alle Richtungen hatte gehen können.
Di, 23.05.93, 14:30
Deshima
1988
Ve, 05.05.89, 10:00
Ve, 05.05.89, 16:00
Das Licht und der Schlüssel
1984
De: Adolf Muschg. Das Licht und der Schlüssel. 1984
Der Hase, heisst es, schläft mit offenen Augen. Es iwrd Zeit, dass er mit geschlossenen Augen zu wachen beginnt.