Markus Werner
Die kalte Schulter
1989
De: Markus Werner. Die kalte Schulter. 1989
Auf den Sandsteinsimsen rannten Tauben hin und her, blieben stehen, zuckten, rannten weiter und gurrten sinnlos. Wank schloss die Augen. Friedmann sah er vor sich, den Jugendfreund, er sah, wie Friedmann, eine Schuhschachtel unter dem Arm, stadtauswärts wanderte, pfeifend vielleicht, sah, wie er die Wiesen erreichte, den Wald, den geeigneten Baum, wie er die Schuhschachtel öffnete. Nein, sagte Wank und packte das heisse Lenkrad, niemand darf das. Wenn ich siebzig bin, wird er noch immer vierundzwanzig sein, wird seine neapelgelben Hosen tragen und den Weltlauf anfechten. Alles stört mich, wird er sagen, sogar Rauhreif. Heute war versehentlich Frühling, wird Friedmann sagen, ich habe an einem Mädchen gesaugt, der Trinkhalm war geknickt. Friedmann wird auf der Treppe vor der Kunstgewerbeschule sitzen, kein weisses Haar wird er haben, das Frühstück ist meine Zuversichtsmahlzeit, sagt er, aber dann kommt die Strasse, dann kommen die Männer, die alle auf einmal süss gezappelt haben, bevor sie auf rätselhaft mechanische Weise dem Krawattentum entgegenwuchsen; dann kommen die Frauen, frisch geduscht und frisch geschminkt und trotzdem tierisch fremd, nein, Moritz, wird Friedmann sagen, das alles ist nichts für mich.
Ve, 05.05.89, 17:00
Zündels Abgang
1984