Gabriel Anwander

2005

Grau, in Grau, in Grau

von Gabriel Anwander

Es hatte keine Hoffnung mehr bestanden, für Vater: Die Wunde war zu tief. Sein Nacken sah übel aus und alles war mit Blut besudelt: seine Haare, der Rücken, die Hände, aber auch das Gesicht und sein Bart. Ein Wunder, dass er es noch bis vor unsere verrammelte Tür geschafft hatte. Den Spuren nach, die er auf der Gasse zurück gelassen hatte, war er dem Boden entlang geklettert. In regelmässigen Abständen schimmerten feucht-rote Abdrücke von den Händen und dazwischen glänzte ein blutiges Rinnsal, das sich im Nebel verlor.
Seine Lammfelljacke war am Rücken und an den Ärmeln in Streifen gerissen, als hätte sie aus Papier bestanden. Damit war für uns klar: Der Luchs hatte ihn getötet. Vermutlich unten am Fluss, als er in den Flechten lag, um Wasser zu trinken, oder auf dem Hügel vor der Stadt.
Er hatte bestimmt gekämpft, hatte abzuschütteln versucht, was ihm so plötzlich ans Leben wollte. "Auf keinen Fall darfst du zu Boden gehen!", hatte er mir einmal eingebleut, "Der Luchs tötet seine Opfer mit einem Biss in den Nacken. Wenn du stehen bleibst, hat er dazu wenig Chancen, da lässt er schnell von dir ab. Hörst du, geh bloss nicht zu Boden!" Dabei hatte er mir vorgemacht, wie er die erste Attacke abgewehrt hatte, wie es ihm gelungen war, den Luchs, der ihm vor vier Monaten in den Nacken gesprungen war, abzuschütteln und zu töten - er beugte sich vor wie ein Judoka und schnellte zurück wie eine junge Tanne. Seit jenem Tag wusste ich: Irgendeinmal wird ihn der Luchs erwischen ... und das wird der Tag sein, an dem auch Mutter und ich fort müssen.
"Wir fangen uns einen Luchs", hatte er gesagt, "einen jungen Luchs. Wir zähmen ihn und halten ihn als Haustier. Dann sind wir gefeit!" Immer wieder hat er davon angefangen. Er war ganz besessen vom Gedanken und zuletzt war er sogar überzeugt, dass ein gezähmter Luchs uns besser schützt als die täglichen Gebete.
Jetzt war es zu spät. Das Biest hatte ihm aufgelauert oder war ihm nachgeschlichen; vielleicht hatte es ihn erwischt, während er auf einem Schaf kniete, um es zu fesseln, wie er es immer tat, um es lebend nach Hause zu tragen. Er musste sich sehr sicher gefühlt haben. Vermutlich hatte er sich auf sein Gehör verlassen, hatte wohl gedacht, das Verhalten der anderen Schafe würde ihn warnen, sollte sich der Luchs anpirschen. Er hatte gelauscht und ein nervöses Schnauben und Blöken erwartet. Wegen dem Nebel hatte er nicht sehen können, dass die Schafe den Tod längst gewittert hatten und geflüchtet waren.
Wo immer der Kampf stattgefunden hatte, die Schuld trug dieser verfluchte Nebel! Unsere Sinne taugen nichts in einem Nebel wie diesem. Er hüllt nicht nur alles ein, er dämpft obendrein die Geräusche und entstellt die Gerüche.

Vater lag auf dem Bauch. Er lag in einer verkrampften, unnatürlichen Haltung mitten auf unserer Pfarrhaustreppe, die rechte Hand steckte unter seinem Körper. Wir drehten ihn auf den Rücken, langsam, behutsam und mit der schauerlichen Befürchtung, er könnte noch etwas von sich geben: einen Seufzer, einen letzten Gruss an Mutter und mich, seine Tochter, oder einen Hinweis zu dem Überfall. Oder - und das hätte mich am wenigsten erstaunt - eine Geste des "verzeiht mir!", weil er uns allein zurückliess. Allein in diesem verfluchten Nebel, in diesem verlassenen Ort. Seit einigen Jahren hüllte sich die Erde ein, als hätte sie uns satt, als hätte sie sich entschlossen, die Geschichte der Natur zurückzudrehen, zurück an den Anfang.

Er hatte den gebrochenen Blick und in der verdeckten Hand kam seine Pistole zum Vorschein. Ich löste die Waffe aus seinen klammen Fingern. Sie war noch warm. Ich wandte mich ab und untersuche das Magazin, so wie er es mir gezeigt hatte; ich tat es auch, um nicht Mutters Gesicht sehen zu müssen, während sie ihm die blutigen Haare aus dem Gesicht strich...
Die Waffe war zweimal abgeschossen worden. Kein Zweifel: Er hatte sich gewehrt. Schafe schoss er nie auf dem Feld, auch nicht mit dem Jagdgewehr. Da fiel mir auf, dass das Jagdgewehr fehlte. Ich blickte zu der Kirche hinüber, die wenige Schritte neben unserem Haus stand. Ich sah nur bis zum Portal. Es lag verschwommen da, wie eine Kulisse, die langsam hinter einem grauen Vorhang hin und her geschoben wird, wie von Geisterhand. Die heiseren Rufe der Krähen hallten zu uns herüber, Rufe, die wie Hohngelächter der Ahnen aus der Blütezeit der Zivilisation klangen. Sie hockten wieder in der Kirche, stolzierten auf den Sitzbänken herum und bekleckerten alles mit Kot. Vor über einem Jahr hatten Unbekannte sämtliche Scheiben eingeworfen und seither führten uns die Krähen vor Augen, wie gottverlassen wir inzwischen waren. Vater war der Pfarrer dieser Kirche gewesen, er hatte vor drei Jahren aufgehört zu predigen.
Ich ertrug das Gekrächze der Krähen nicht, es klang mir mehr als Drohung denn als Hohn, und ich hätte in meinem Zorn und in meiner Trauer ihnen am liebsten ein paar Kugeln in die Federn geschossen. O wie ich die schwarzen Vögel hasste, die das Fliegen aufgaben und sich in den Gassen mit den Ratten um den Unrat stritten.
Ich vermisste die Stimmen der Menschen, das Lachen der Kinder, das Singen der Vögel im Park, oder die frisch aufgespielte Musik, die aus Wirtshausstuben erschallte, und natürlich den Gesang und das Orgelspiel in der Kirche. Ich sehnte mich nach dem Lärm der Stadt, nach den Geräuschen und Klängen, an die ich mich nur noch vage erinnern konnte. Der Nebel hatte sich langsam eingeschlichen, aber dauerhaft festgesetzt und so die Menschen vertrieben, zuweilen drang er bis in die verlassenen Häuser vor und im Morgengrauen konnte er so dick sein, dass man seine eigenen Schuhe nicht mehr sah. Mal schwappte er hin und her wie eine Suppe, mal strich er ständig in der selben Richtung, tagelang. Seit über drei Jahren verwehrte er uns nachts den Blick zum Mond und in die Sterne, und tagsüber verhüllte er sogar die Sonne, so dass man kaum mehr sagen konnte, wo sie stand.
Alles hatten die Menschen aufgegeben, die Häuser, die Läden, den Strom, das Trinkwasser, alles. Die Felder, ja selbst die Autos wurden dem Nebel preisgegeben und den Flechten überlassen. Alle flohen dem Fluss entlang aufwärts in die Berge, wo es angeblich noch nebelfreie Tage gab. Weit über der Waldgrenze.
Zuvor waren vom Mittelland her kommend unzählige Horden hier durchgezogen, ebenfalls auf der Flucht, hemmungslos plündernd, sich gegenseitig bekämpfend, auf dem Wettlauf ins Gebirge, wo der Platz begrenzt war. Der Gestank vom Qualm der Feuer, die sie auf den Plätzen entfachten und in denen sie nicht nur Holz verbrannten, an denen sie sich wärmten und über denen sie Lämmer brieten, dieser Gestank, der an verbrannte Wolle erinnerte, blieb oft wochenlang hängen.
Die Schafe, die Luchse, die Krähen und die Ratten scherten sich nicht um den Nebel. Die Schafe vermehrten sich besonders stark und frassen die Flechten, die den Fluss, die Wiesen, die Bäume, die verlassenen Häuser, die einfach alles zu überwuchern und zu ersticken drohten. Vor der Stadt draussen traf man jedesmal auf Schafe, die wie Schwemmholz in den Flechten lagen. Ein Bild in Grau, in Grau, in Grau. Gerade auch deswegen schmerzte mich Vaters rote Blutspur so schrecklich in den Augen.
Ich steckte die Pistole ein. Wir fassten ihn unter den Achseln und schleppten ihn gemeinsam hinters Haus, und während ich das Grab für ihn aushob, ordnete die Mutter im Haus die Dinge, die wir mitnehmen würden.
Am nächsten Morgen traten wir unsere Reise an. Wir tasteten uns zum Fluss hinunter und fanden auf dem Weg das Jagdgewehr und wenige Schritte neben einer Linde stiessen wir auf den toten Luchs. Als ich mich über ihn beugte, um im Fell nach den Spuren der Einschüsse zu suchen, hörte ich über mir ein Fauchen und Knurren, so dass sich meine Nackenhaare sträubten: Im Geäst hockte ein Jungluchs, der sich vor uns stärker fürchtete als wir vor ihm. Wir brauchten viel Zeit, um den durstigen und widerspenstigen Kerl herunterzuholen. Als wir ihn hatten, kehrten wir heim.