Charlotte Frank

2004

Das Reihenhaus

von Charlotte Frank

Am besten sehe ich sie im Winter, wenn es noch dunkel ist und die Fenster hell erleuchtet. Dann sitze ich im Treppenhaus auf der obersten Stufe und rauche eine Zigarette. Sie kommt um halb acht in die Küche, macht Kaffee und deckt den Tisch. Im Kinderzimmer öffnet sie die Jalousien. Er trinkt eine Tasse Kaffee und geht gleich ins Bad. Die Jungen kommen verschlafen an den Tisch, essen ihr Brot, sie setzt sich zu ihnen. Eine halbe Stunde später sind Vater und Kinder aus dem Haus gegangen. Wenn sie zu Hause bleibt, setzt sie sich nochmals mit einer Tasse Kaffee an den Tisch und liest Zeitung. Wird es hell draussen, löscht sie die Lichter, dann sehe ich nicht mehr viel. Ist das Wetter schlecht, ist es ein guter Tag. Das Haus sieht so gemütlich aus, das Licht über dem hellen Esstisch, bestimmt Arvenholz, da kenne ich mich jetzt aus. Das Kinderzimmer mit den bunten Kissen und den Bildern an der Wand. Ich sitze im kalten Treppenhaus und stelle mir vor dazu zu gehören. Nur widerwillig gehe ich in die Werkstatt und fange an zu sägen. Holzspielzeug für den nächsten Weihnachtsmarkt. Markus, mein Kollege, der mit mir auf Entzug war, macht Bemerkungen, wenn ich aus dem Fenster schaue oder im Treppenhaus sitze und auf die andere Seite der Wohnstrasse starre. "Du stehst auf die Katze, stimmts?" und stösst mich in die Seite. "Die ist doch nichts für dich. Das ist doch eine 0815-Frau mit einer 0815-Familie. Ausserdem ist sie zu alt für dich." Mir ist das egal, ich schweige, ich spreche sowieso mit keinem. Die Müller hat zu mir gesagt: "Alex, das ist deine Chance, die Leute von der Kastanie nehmen dich in die Werkstatt auf, aber du musst durchhalten. Wenn du wieder auf die Gasse gehst, kannst du irgendwann nicht mehr zurückkommen." Bis jetzt habe ich es durchgezogen, obwohl ich keinen Bock auf das Holzbearbeiten habe und mir all die gesundheitsversessenen Sozis mit ihren farbigen Taschen und ihrem Geschwafel über das Spüren gestohlen bleiben können. Aber ich will die Familie sehen. Stehe früh auf, flüchte aus meiner Bude, damit ich rechtzeitig auf der Treppe bin, wenn sie mit ihren zerzausten kurzen Haaren im Schlafanzug in die Küche kommt. Ich stelle sie mir als meine Mutter vor, ich bin der jüngere von den Buben, dem sie übers Haar fährt und zum Abschied küsst. Manchmal im Sommer sitzt sie mit ihm in dem kleinen Garten und liest ihm etwas vor. Meine Mutter hat zu Hause rumgelegen, zugedonnert mit Tabletten, wenn sie nicht gerade in der Klinik war. Mein Alter schickte mal ne Karte aus Brasilien. Ja, es stimmt schon, was Markus sagt, sie gefällt mir, im Sommer trägt sie Röcke und malt die Lippen an, dann möchte ich zu ihr, möchte ihr Mann sein. Ihr Schlafzimmer habe ich noch nie gesehen, ich glaube, es liegt auf der anderen Seite im oberen Stock. In den Nachbarhäusern ist nichts los, meistens sind die Gardinen zugezogen, rechts ein älteres Paar, links eine Familie mit fast erwachsenen Kindern. In meinem Haus, dem mittleren, ist Leben, ich möchte an ihrem Tisch sitzen unter dieser warmen Lampe und hören, wie sie sich vom Tag erzählen oder miteinander lachen. Einmal bin ich abends länger geblieben. Zu Markus habe ich gesagt, ich wolle den Lastwagen fertig machen. "Du wirst noch ein Streber!" meinte er verächtlich. Als dann alle gegangen waren, habe ich mich im Dunkeln auf die Treppe gesetzt und gesehen, wie sie das Abendessen kocht, wie ihr Mann nach Hause kommt und sie küsst. Er deckt den Tisch, sie essen miteinander. Nach dem Essen hat der Kleine am Fenster gestanden und die Nase an der Scheibe platt gedrückt. Ich habe schnell die Zigarette ausgemacht, um mich nicht zu verraten. Es scheint sie nicht zu stören, dass man ins Haus sehen kann, sie haben keine Gardinen. Nur vom Badezimmer sehe ich bloss Schatten durch das Milchglas.
Der Kleine heisst Nino, ich hab neulich mit ihm Fussball gespielt. Ich hatte mir was zu essen geholt. Er hat in der Wohnstrasse den Fussball gegen die Garagentür gekickt. Zuerst gab's Zoff im Quartier als die Kastanie eingezogen ist. Die wollen keine wie uns, die braven Bürger haben Schiss. Heinz, der Werkstattleiter, hat den Anwohnern einen Brief geschrieben und versprochen, dass niemand belästigt wird. Er hat einen Tag der Offenen Tür veranstaltet, keiner ist gekommen. Jetzt werden wir geduldet, nur kurz von der Seite angesehen im Supermarkt. Wir sind Luft und sollen uns auch so verhalten. Der Kleine hat den Ball aufs Garagendach gekickt und konnte ihn nicht mehr runterholen. Da hab ich ihm geholfen, bin auf einen Baum gestiegen. Mit einem Besen konnte ich den Ball wieder herunterbekommen. Normalerweise hätte ich das nicht gemacht, aber der Kleine, das ist was anderes. Wir haben ein bisschen zusammen gekickt, es hat richtig Spass gemacht. Bis Markus aus dem Fenster gepfiffen hat: "He, Alex, die Müller kommt!" Wir haben uns mit Handschlag verabschiedet. Die Müller kam nicht, Markus hat mich verscheissert. "Machst du dich jetzt an die da drüben ran?" blaffte er. Ich sagt nur: "Lass mich in Ruhe!" und hab die Räder für einen Elefanten montiert.

Jetzt spiel ich ab und zu Fussball mit dem Kleinen. Wenn ich ihn da draussen sehe, alleine mit seinem Ball, mache ich eine Pause und kick ein bisschen mit ihm. Ich glaube, er hat nicht so viele Freunde. Rico, sein grosser Bruder, ist nicht oft zu Hause. Nino spricht nicht viel, genau wie ich. Gestern wirkte er noch ernster als sonst. "Sportsfreund, was ist los mit dir?" fragte ich ihn nach einer Weile. Nino druckste rum und erzählte schliesslich doch. "Vielleicht zieht Papa schon bald aus, sie streiten jetzt immer oder sie reden gar nicht mehr. Wir bleiben hier bei ihr. Ich will aber nicht, dass mein Papa fortgeht." Und dann hat er auch noch angefangen zu heulen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Hab ihm nur ein bisschen den Arm um die Schultern gelegt. Mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können. Ich konnte ihm nicht vom Licht in ihrer Küche erzählen, von der Wärme beim Frühstück, von meinem Versteck im Treppenhaus. Nach einer Weile sagte ich: "Kopf hoch, wir spielen morgen wieder" und ging zurück in die Werkstatt. Heute morgen bin ich um acht gekommen wie die anderen. Es gibt nichts zu sehen da drüben. Eigentlich könnte ich der Gasse wieder mal einen Besuch abstatten. Doch wer spielt mit dem Kleinen Fussball, wenn die mich rauswerfen?