Ruth Wittig

2012

Reichengasse

von Ruth Wittig

 „Ein Bijou“, hatte der Makler zu ihr gesagt, „genau das Richtige für Sie“. Als sie das Objekt besichtigt hatte, war strahlender Sonnenschein gewesen. Der Makler, der vor ihr gekommen war, hatte alle Lampen angezündet und die Sprossenfenster aufgerissen, weisses Winterlicht strömte herein. Er führte sie herum, als habe er die Wohnung eigens für sie bauen lassen. Drei Zimmer auf zwei Etagen, Wohnküche, Terrasse, alles neu renoviert, das Bad sei gefangen, ma foi, er hob die Hände, aber schwarz gekachelt und es habe ein Bidet. Sie könne sofort einziehen. Erminia entwand sich seinem Blick, den er wie eine schwere Hand auf ihren Körper gelegt hatte und trat ans Fenster. Sie hatte ihre Zweifel, ob dieser Mann wusste, was das Richtige für sie war, aber der Ausblick verzauberte sie und ausserdem, was sie ihm nicht sagen würde, hatte er in diesem Punkt nicht unrecht. In den ehemaligen Patrizierhäusern der Reichengasse wohnten die, die es auf der richtigen Seite des Lebens zu etwas gebracht hatten: muntere Singles oder unkonventionelle Patchwork-Familien, Kunsthandwerker, Kulturleute und linksliberale Politiker. Berlin-Mitte oder Greenwich Village, nur in kleinerem Mass-Stab, à la Suisse eben. Man traf sich samstags auf dem Markt oder zum Espresso bei Frédéric, die Männer trugen farbige Hosen und ihre Haare, falls sie welche hatten, standen genau im richtigen Winkel vom Kopf ab. Der Gipfel entspannter Perfektion, fand Erminia. Aber das, was letztlich den Ausschlag gab, war die Aussicht: der Blick auf den Fluss, der sich im Lauf von Jahrtausenden in die Sandsteinschichten eingefressen hatte, die mittlere Brücke, den Treppengiebel der Kommandantur und die Ziegeldächer der unteren Altstadt, die noch vor siebzig Jahren, als ihre Grosseltern in die Stadt gekommen waren, ein Problemquartier gewesen war mit drangvoller Enge und katastrophalen sanitären Zuständen und wo Wohnraum heute zu Phantasiepreisen gehandelt wurde. Die Reichengasse, nomen est omen, war schon immer ein Edelquartier gewesen. In den Wohnungen der Reichengasse hatte ihre Mutter saubergemacht. Santo cielo che casino, hatte sie gesagt, wenn sie nach Hause gekommen war, und wenn das Kind, das es mal besser haben sollte, sie begleiten durfte, hatte es sich gewundert, dass die Schweizer, die ihrer Mutter Arbeit und Lohn gaben, so wenig Möbel hatten. Sie erinnerte sich an Bücher, Bilder, staubbedeckte Lautsprecherboxen und Zimmer mit zweifarbig gemusterten Holzböden, in denen, wie beim Zahnarzt, nur eine Lampe und eine Liege standen. Am Hang gegenüber sah sie weidende Schafe, die Steilwand mit der Loretto-Kapelle obendrauf und dahinter die Berge. Erminia hatte nicht lang überlegen müssen. Der Mietzins war hoch, aber das konnte sie sich leisten und ausserdem war es Zeit, zuzupacken, wenn es im Leben etwas zu packen gab.
Im Dezember fand sie einen Nachmieter für ihre Blockwohnung. Den Weihnachtsmonat verbrachte sie mit glücklichen Vorstellungen, und nach den Ferien, als sie die Kaution hinterlegt hatte, nahm sie die Schlüssel in Empfang. Die Wohnung gehörte ihr. Die teppichbelegten Stufen, die vom Eingang auf der Reichengasse drei Stockwerke nach unten zu ihrer Wohnungstüre führten, dämpften jeden Schritt, was angenehm war, solange die Möbelpacker hin und herliefen, aber mit der Zeit etwas Beklemmendes bekam. Wenn sie das Haus betrat und lautlos zu ihrer Wohnung herabstieg, die auf der Rückseite des Hauses lag, schien sie vom Erdboden zu verschwinden, die Spuren ihrer Existenz vom Teppich getilgt. Am Anfang hatte sie Pläne, ihre kleine Terrasse mit Holzplanken auszulegen, die Plastikstühle, die der Vormieter hinterlassen hatte, durch Metallmöbel zu ersetzen und Pflanzen in Kübeln zu halten. In einem Gartenkatalog fand sie Geissblatt und Jasmin, ein Orangenbäumchen, Lavendel und kleinblättriges Basilikum aus Griechenland; sie stellte sich den Duft vor, den Blätter und Blüten entfalten würden, morgens, wenn sie im Licht der ersten Sonnenstrahlen vom Nachtdienst nach Hause käme. Bereits im Februar sass Erminia draussen, obwohl sie nicht rauchte und es somit keinen Grund gab, draussen zu sitzen. Es war kalt. Sie sass auf dem Plastikstuhl, eigentlich war er gut genug, er war nicht unbequem. Manchmal rief ein Vogel, Hunde bellten oder es schrie ein Kind in der Ferne. Der Verkehr auf der Alpenstrasse schwoll an und ab und irgendwo im Umkreis wurde immer gebaut. Restaurierungslärm: schwaches Hämmern und Klopfen, das Sirren einer Bohrmaschine, Erminia stellte sich das vorsichtige Abtragen von Farb- und Mauerschichten vor, conserver le patrimoine, ja und die Kirchenglocken, sie war von Kirchen geradezu eingekreist: das kraftvolle Brausen von Saint-Nicolas und das helle Gebimmel der Augustinerkirche, Saint-Jean, der immer ein bisschen zu spät dran war und die schwachen Töne, die der Wind von den Kapuzinerinnen auf dem Bisemberg herübertrieb.
Im Grunde genommen war es ein Gefängnis, ihr Bijou, ein komfortabler Käfig mit vergittertem Freigehege, durch Schilfmatten vor Blicken geschützt. Die Brandmauer des Nebenhauses, die turmhoch neben ihr aufragte und die Terrasse zur Linken begrenzte, war in Bodennähe bemoost und von wolkigen Flecken durchzogen, die im Lauf der Zeit ihre Form veränderten wie richtige Wolken, nur langsamer, wie es sich für ein Gefängnis gehört, in dem das normale Zeitempfinden ausser Kraft gesetzt ist. Auch das Küchenfenster und die Terrassentür waren durch Gitterstäbe gesichert, ein solider Metallrahmen war in den Türsturz eingelassen, er trug gitterne Flügeltüren, mattschwarz gestrichen. Keine Spuren von Rost, noch nicht. Drei Stufen, mit Kiesfliesen belegt, führten in die Wohnküche; manchmal, wenn sie nach Hause kam, lagen Vogelfedern dort. Auf dem Balkon vier Stockwerke über ihr wurde ein Läufer ausgeschüttelt.
Als es wärmer wurde, merkte Erminia, dass sie nicht allein war. Jenseits der Schilfbarriere war eine Bank, eine öffentliche Bank, die zu einem kleinen Park gehörte, wenn man es so nennen konnte. Es war eine bescheidene Grünanlage, die von Männern in orangefarbenen Westen geharkt und aufgeräumt wurde, auf zwei Etagen verteilt wie Erminias Wohnung, kiesbestreut, die Beete mit niedrigen Sträuchern bepflanzt. Auf dem unteren Plateau waren ein paar Spielgeräte installiert worden. Ein Zaun aus geflochtenen Stahlseilen, die an schwarzgestrichenen Pfeilern festgezurrt waren, begrenzte das Gelände. Auf dieser Bank, die vielleicht fünf Meter entfernt war und die Erminia sehen konnte, wenn sie auf der obersten Treppenstufe auf den Zehenspitzen stand oder wenn sie sich aus dem Schlafzimmerfenster lehnte, begann sich im Lauf des Frühlings ein Leben zu entfalten. Liebesgeflüster, Haschischwolken, das Zirpen von iPhones, an Ostern eine ganze Familie mit kleinen Kindern beim Eiersuchen; wie schnüffelnde Tiere wühlten sie im Unterholz, nachher stritten sie sich und weinten, weil eins von ihnen einen Zuckerhasen zertreten hatte. Erminia verhielt den Schritt im Türrahmen und wartete, die Teetasse in der Hand, bis sie weg waren. Noch lange drangen ihre Stimmen vom unteren Teil des Parkes herauf; wahrscheinlich rannten sie dort herum oder schaukelten auf den Holztieren, mit Mündern voll Schokolade. Am Nachmittag kam Wind auf. Ein Fetzchen Silberpapier, rund wie das Ei, das es umhüllt hatte, kreiselte über die Tischfläche und kam am Rand der Wasserflasche zur Ruhe.
Als die Bäume belaubt waren, erreichte die Sonne Erminias Terrasse nicht mehr. Die Jasminblüten, schneeig weiss und zart, gaben kaum Duft und die Aussicht verschwand hinter den Baumkronen. Das Spiel der Blätter war schön, sie zitterten und zeigten ihre silbrigen Rückseiten. Auf der Bank, die ein paar Meter weiter in der Sonne stand, sass ein Mann. Erminia hörte das Scharren seiner Schuhe auf dem Kies und roch den Rauch seiner Zigarette. Balkan, dachte sie, als sie vom Fenster des ersten Stocks aus hinausgespäht hatte, Albanien. Er sah aus wie die Männer, die auf niedrigen Schemeln in der Fussgängerzone sassen und ihr über den Rand des Akkordeons hinweg „Bonjour Madame“ zuriefen, wenn sie vorbeiging und so tat, als hätte sie nichts gehört. Er war fast immer da, zu den verschiedensten Tageszeiten: nachmittags, wenn sie aus unruhigem Schlaf erwachte, gegen Abend, wenn sie zur Nachtwache aufbrach oder vom Tagdienst zurückkehrte und an den Tagen, an denen sie frei hatte und im Lauf des Vormittags mit der Kaffeetasse auf die Terrasse trat. Meistens war er über sein Handy gebeugt und manchmal sprach er in einer fremden Sprache hinein, aber meistens sprach er nicht. Im Lauf der Zeit musste Erminia nicht mehr aus dem Fenster sehen, um sich seiner Gegenwart zu vergewissern. Sie konnte seine Gestalt und seine Geräusche durch die Schilfwand hindurch wahrnehmen, deren Halme in der Hitze brüchig und durchlässig geworden worden. Solange er da war, kam niemand anderer, keine kichernden Liebespaare mit plärrender Handymusik oder Gruppen von Jugendlichen, die Worte und Sätze mit Überdruck aus sich heraussprengten und vor denen Erminia Angst hatte; wenn sie sprachen, klang es wie ein Feuergefecht. Der Sommer war trocken und heiss. Sie holte sich zu trinken und setzte sich auf den Plastikstuhl, sie zerrieb Basilikumblätter zwischen den Fingern, der Rauch seiner Zigarette wehte herüber, sie trank Wasser in grossen Schlucken. Manchmal ging er weg und kehrte zurück, sie hörte ihn Dosen aufreissen; einmal, an einem Sommerabend, hörte sie ihn singen. Sie überlegte, ob sie selbst Musik abspielen sollte, aber sie wusste nicht was, nichts schien passend zu sein, und als er weitersang, leise und eintönig, ging sie ins Haus und schloss die Tür. Im August, als sie eine Woche freihatte, wurde die Hitze unerträglich. An Schlafen war nicht zu denken. In der vierten Nacht rollte Erminia ihre Matratze zusammen, trug sie auf beiden Armen die steile Wendeltreppe hinunter und legte sie in der Küche auf den Steinboden, die Terrassentür liess sie offen, die Gitterflügel angelehnt, er war da, sie fühlte sich sicher. Im grünen Licht der Dämmerung erwachte sie vom Rauschen des Regens, kühle Luft floss herein.
Nach den Ferien kam ein neuer Oberarzt auf ihre Station, er hiess Mazzoletti. Er hatte eine zuvorkommende Art und stellte ihr viele Fragen, die sie gewissenhaft beantwortete. Beim Frührapport nannte er sie seine rechte Hand, und Erminia gestand sich ein, dass sie mit seinem Kommen und mit seinem Namen eine Erwartung verknüpft hatte, die sich nicht näher bezeichnen liess, aber die in der Entwicklung der Dinge eine Entsprechung fand. Die Pflegeleiterin sprach davon, sie für ein paar Wochen beim Nachtdienst ablösen zu lassen, damit sie ihm assistieren könne. Das Wort „stellvertretende Stationsleitung“ lag in der Luft. Erminia besorgte sich Karten für eine Theateraufführung im neuen Schauspielhaus, Metamorphosen hiess das Stück, es war ziemlich kompliziert. Eine Kollegin kam mit und in der Kaffeepause erzählten sie davon. Sie kaufte eine Espressomaschine und zwei neue Kopfkissen. Im Oktober fiel ihr auf, dass der Mann auf der Bank nicht mehr da war. Eine Abwesenheit, die in dem Moment, als sie ihrer gewahr wurde, schon lange zu bestehen schien, sie hatte es nur nicht gemerkt. Er war weg und auch sonst war niemand da, die Bank blieb leer. Tage und Nächte wurden frischer und mit der Abkühlung wurde ihr Schlaf tiefer.
Eine Woche später ging Erminia nach der Arbeit nicht nach Hause, sondern in den kleinen Park zu der Bank und setzte sich hin. Es war eine Bank aus grau verwitterten Holzlatten, auf der Sitzfläche ein Loch mit Brandrändern. Erminia vermied, sich drauf zu setzen, als könne es sie verletzen oder ansengen. Es war ein schön geformtes, ovales Loch und so gross wie eine Mango, eine thailändische, gelbe oder wie eine Avocado, diese kleine Sorte, die Hass heisst und deren Schale fast schwarz ist, die würde vielleicht durchpassen. Wie lang es wohl dauern mochte, eine solche Narbe ins Holz zu brennen? Auf dem obersten Balken der Rückenlehne war Ville de Fribourg ins Holz gestanzt und daneben war ein heller Fleck, ein gut umgrenzter, rechteckiger Fleck: ein Stück Isolierband mit dem Kugelschreiberwort RUSKOV. Ruskov. Ein Name? Eine Botschaft? Erminia wandte den Kopf nach links und nahm ihre Terrasse in Augenschein. Das Schilf war bräunlich und trocken, an manchen Stellen fast schwarz, sie konnte die Umrisse ihres Tisches und die Lehne des Plastikstuhls ausmachen. Da hatte sie gesessen und der Mann hatte sie gesehen, so wie sie ihn durch den Schilfparavent gesehen hatte, eine Gestalt, die sich manchmal bewegte, aufstand, verschwand, wiederkam, ein Glas auf dem Tisch absetzte und er hatte nicht reagiert, so wie sie nicht reagiert hatte, nie. Wochenlang hatten sie auf der Rückseite der Reichengasse nebeneinanderhergelebt und jetzt war er weg und sie war noch da. Erminia stand auf und trat an den Schilfzaun heran, sie streckte eine Hand aus und drückte die Halme auseinander, wenn sie sich reckte, konnte sie über den Zaun hinweg auf ihre Terrasse sehen, hatte er das auch gemacht, wenn sie nicht dagewesen war und hatte er gesehen, was sie jetzt sah, die Tischdecke aus Wachstuch mit der Karaffe, die seit langem draussen stand und sich mit Regenwasser gefüllt hatte, den angelaufenen Zinnkrug, mit dem sie ihre Topfpflanzen goss, das Orangenbäumchen und die trockenen Rispen des Lavendelstrauches, er war schon lange verblüht. Ihre Terrassenschuhe, klobige Clogs, ein Gartenhandschuh und die kupferne Topfkralle, Utensilien, die sie vor einem halben Jahrhundert angeschafft hatte, sie hatten irgendwie überdauert, Zeugen einer vergangenen Epoche, und standen wahllos nebeneinander, das Arrangement gab keinen Sinn. Der umzäunte Raum, der ihre Terrasse war, sah leer und verlassen aus, hier lebte niemand. Das Geräusch der Schritte auf dem Kies nahm Erminia erst wahr, als es ganz nah war. Sie drehte sich um und sah in das Gesicht des Quartierpolizisten, den sie vom Sehen kannte, weil er ihr manchmal mitten auf der Strasse mit einem seiner Kollegen entgegenkam, Stiefel, Kappe, die sportliche blaue Uniform der Stadtpolizei. Er hatte einen schmalen Kopf, braune Haut und braune Lippen, auch er war nicht von hier. Jetzt stand er am Rand der Bank und beobachtete sie aus schwarzen Augenschlitzen. „Suchen Sie etwas, Madame?“ Sein Ton war höflich, aber bestimmt. Als sie nicht antwortete, tat er einen entschiedenen Schritt in ihre Richtung. „Was machen Sie hier, Madame?“ „Nichts“, sagte Erminia. Sie ging ohne Eile auf ihn zu und an ihm vorüber zu der Treppe, die nach oben und aus dem Park hinausführte. „Nichts“.