Alain Claude Sulzer

Alain Claude Sulzer, geboren 1953. Sein literarischer Durchbruch erfolgte 2004 mit dem Roman «Ein perfekter Kellner». Für seine zahlreichen weiteren Veröffentlichungen wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kulturpreis der Stadt Basel.
(2023)
Werke (Auswahl)
Doppelleben.
Verlag Galiani Berlin, 2022
Unhaltbare Zustände.
Verlag Galiani Berlin, 2019
Die Jugend ist ein fremdes Land.
Verlag Galiani Berlin, 2017
Postscriptum.
Verlag Galiani Berlin, 2015
Aus den Fugen.
Verlag Galiani Berlin, 2012
Zur falschen Zeit.
Verlag Galiani Berlin, 2010
Ein perfekter Kellner.
Edition Epoca, 2004
Urmein.
Klett-Cotta Verlag, 1998
Bergelson.
1985
Doppelleben
Verlag Galiani Berlin, 2022
Den zwillingsgleich lebenden Brüdern Jules und Edmond de Goncourt entging fast nichts. In ihren zeitlebens geheimen Tagebüchern dokumentierten und kommentierten sie mit spitzer Feder das gesellschaftliche Leben im Paris des 19. Jahrhunderts. Ihre feine Beobachtungsgabe war berühmt-berüchtigt. Für die existenziellen Dramen aber, die sich in ihrem eigenen Haus abspielten, waren sie blind. Diese Gegenwelten führt Alain Claude Sulzer präzis beobachtend, aber nie blossstellend zusammen.
Aus: Alain Claude Sulzer. Doppelleben. Verlag Galiani Berlin, 2022
«Wer die beiden tuschelnden Männer beobachtete, die gestikulierend unterstrichen, was außer ihnen niemand hören konnte, mochte sie für genau das halten, was sie waren, Freunde oder Brüder, die einander stützten; Brüder, gewiss, vor allem aber Dichter! Erkunder! Wörtersucher! Sucher, Entdecker und hellwache Erkenner des sichersten Werts und Gewichts der freimütigsten, farbigsten, treffendsten, wahrsten Formulierung für jedes Ding, jede Regung, jeden Stoff, kurz jede Erscheinung der sicht- und nichtsichtbaren Welt. Nur selten genügte ein einziges Wort, Farben wurden auf der unsichtbaren Palette gemischt, bis der gewünschte Ton genau getroffen war.»
Sa, 20.05.23, 17:00
So, 21.05.23, 15:00
Unhaltbare Zustände
Verlag Galiani Berlin, 2019
Die 42. Solothurner Literaturtage fanden aufgrund der Corona-Pandemie online satt.
Dieser Roman ist wie das Schaufenster, das darin zum Dreh- und Angelpunkt wird: Perfekt komponiert, fein geschliffen, harmonisch ausbalanciert. Stettler, ein alleinstehender Meister-Dekorateur, der bis zu ihrem Tod bei seiner Mutter wohnt und lediglich durch eine losen Brieffreundschaft mit einer Konzertpianistin verbunden ist, wendet seit Jahrzehnten seine ganze Liebe für den schönen Schein auf. Bis ein junger Kollege Stettlers Weltbild erschüttert und sich der alternde Dekorateur in einem abgründigen Befreiungsakt revanchiert.
Aus: Alain Claude Sulzer. Unhaltbare Zustände. Verlag Galiani Berlin, 2019
1 Winter
Zu keiner Jahreszeit war Stettlers untrüglicher Sinn für Schönheit so gefragt wie in den Wochen vor Weihnachten. Sein Wissen über unterschiedliche Farben, Formen und Materialien, sein Sinn für Raum und Symmetrie, für Hell und Dunkel, Licht und Schatten, kurzum die Summe all seiner Fähigkeiten war unverzichtbar. Die Vorweihnachtszeit war seine beste Jahreszeit, nie war das Interesse der Kollegen an seiner Arbeit größer als Anfang Dezember, am ersten Donnerstag des Monats, wenn das Zeitungspapier vorsichtig von den Schaufenstern entfernt [...]
Do, 14.05. – Mo, 08.06.20
Zur falschen Zeit
Verlag Galiani Berlin, 2010
Immer wieder schreibt Alain Claude Sulzer eindringlich über Menschen, die an den Konventionen ihrer Zeit zerbrechen: Im preisgekrönten Roman «Ein perfekter Kellner» erzählte er zum Beispiel vom Elsässer Etienne, der in den 30er-Jahren im Hotel Giessbach am Brienzersee arbeitet und sich hoffnungslos in einen Kollegen verliebt. Und auch sein jüngstes Werk «Zur falschen Zeit» zeigt einen Mann, der nicht der Stimme seines Herzens folgen konnte und deshalb den Freitod wählte. Erst Jahre später entdeckt der Sohn das tragische Geheimnis des Vaters.
Aus: Alain Claude Sulzer. Zur falschen Zeit. Verlag Galiani Berlin, 2010
Mein Vater starb nur wenige Wochen nach meiner Geburt. Mir blieb nichts als ein Foto. Es gehörte zur Einrichtung wie das Bett und der Tisch, wie Schongauers Maria im Rosenhag, die Gardinen und der Schrank, Dinge, mit denen meine Mutter schon vor Jahren mein Zimmer ausgestattet hatte. Obwohl das gerahmte Porträt meines Vaters schon immer Teil der Einrichtung gewesen war, hatte ich ihm lange keine besondere Aufmerksamkeit mehr geschenkt, bis ich eines Nachmittags während der Herbstferien vor dem Bücherregal stehenblieb und es, zum ersten Mal seit langer Zeit, genauer betrachtete.
Fr, 03.06.11, 10:00
Ein perfekter Kellner
Edition Epoca, 2004
Aus: Alain Claude Sulzer. Ein perfekter Kellner. Edition Epoca, 2004
Jakob betrachtete ihn ungeniert, vielleicht hatte er ihn durchschaut. Hatte er ihn tatsächlich durchschaut? Über alles, fast alles, hatten sie später geredet, aber darüber nicht, es gab auch Dinge, über die man nicht sprach, und je länger sie sich kannten, desto zahlreicher wurden die Dinge, über die sie nicht mehr sprachen. In diesem Augenblick schwor sich Erneste, dem jungen Mann zu helfen, ihm wie einem Bruder beizustehen, ihm aus jeder Verlegenheit zu helfen, alles Übel von ihm abzuwenden, ihn selbst dann vor dem Tode zu bewahren, und wenn die Verteidigung den eigenen Tod bedeutete. Die Dinge, die Erneste in diesem Augenblick durch den Kopf gingen, hatten so viel Gewicht gehabt, dass sie noch dreissig Jahre später ganz gegenwärtig waren. Jakob erschien ihm als der Sohn, den er nie haben würde, als der verständnisvolle Bruder, den er nie gehabt hatte, als Vater und Mutter, die er sich gewünscht hätte, und ebenso als tausend andere Dinge, die er sich gar nicht eingestehen konnte.
Fr, 06.05.05, 15:00
Urmein
Klett-Cotta Verlag, 1998
Aus: Alain Claude Sulzer. Urmein. Klett-Cotta Verlag, 1998
Den Bewohnern des Schlosses, die sich im Lauf der vergangenen Jahre an einen verhaltenen, fast zögerlichen Gang der Dinge im Rahmen einer eilig vergehenden Zeit gewöhnt hatten, mochte es scheinen, als überstürzten sich die Ereignisse, was sicher auch daran lag, dass sie dazu verurteilt waren, Zuschauer zu bleiben; ihre Stimmen trugen nicht weit genug, um über einen kleinen Radius hinaus gehört zu werden.
Sa, 15.05.99, 11:00
Bergelson
1985
Aus: Alain Claude Sulzer. Bergelson. 1985
Die Seele sitzt nicht hinter der Stirn, nicht unter der Zunge oder in den Gedärmen, auch nicht im Geschlechtsteil, wie einige glauben oder zu glauben vorgeben, weil der Teufel sie reitet, nicht im Herzen, auch dort nicht, nein, unter der haut über den Knochen. Das war es, wonach ich jahrelang gesucht hatte, während ich nach draussen horchte auf die Geräusche, nach innen ins Zimmer, in mich, in die Violine, während ich das Essen kalt werden liess, das meine Mutter hineingetragen hatte, sie ging auf Zehenspitzen. Ich habe sie nie anders als in Schwarz gesehen, mit schwarzen, dicken Wollstrümpfen und einem schwarzen Kopftuch ich sehe ihre Haare nicht, ich kann mich an ihre Haarfarbe nicht erinnern.