Christian Gasser
Fr, 10.05.13, 18:00
Mein erster Sanyo. Bekenntnisse eines Pop-Besessenen
Tiamat, 2000
Aus: Christian Gasser. Mein erster Sanyo. Bekenntnisse eines Pop-Besessenen. Tiamat, 2000
«Unser Lied» oder: das richtige Mädchen?
Literarisch inspirierte Menschen tunken mürbes Gebäck in eine Tasse Tee, wenn sie sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit aufmachen – dem Pop-Besessenen gelingt dies ohne Kalorien-Exzess. Es genügen zwei, drei Akkorde oder der Refrain eines Lieds, und – flash!back! – er wird durch Zeit und Raum gebeamt und landet mitten in einer Episode aus seinem Leben.
Die Eigenart dieser mit ganz bestimmten Ereignissen verbundenen Lieder, auf die der Pop-Besessene reagiert wie der Hund auf Pavlovs Stromstösse, ist, dass die Verknüpfung ausserhalb seines Einflusses geschieht. Nicht er stellt in solchen Augenblicken den Soundtrack zu seinem Leben zusammen – es ist das Leben selber, das die Platte auflegt (beziehungsweise ein Radiosender, ein DJ oder ganz einfach sein Nachbar), ohne sich um seine Wünsche oder Bedürfnisse zu scheren, und ohne dass er sich ihrer erwehren könnte.
Das kann hart sein, denn die passende Musik ist nicht nur im Kino ebenso wichtig wie die geschliffenen Dialoge. Was ist, wenn der Barmann keinen Geschmack hat? wenn der Radiosender die Top-40 rauf- und runterturnt? Und warum musste der Stras-senmusiker, just als ich zum ersten Kuss ansetzte, Cutugnos «L‘Italiano» anstimmen? Hat eine Beziehung, die auf so ein Lied aufbaut, eine echte Chance? Braucht nicht jede anständige Lovestory in unserer von den mittelalterlichen Trouba-douren geprägten Tradition okzidentalen Liebeswerbens ein «unser Lied» als Ausgangspunkt? Was ist in solchen Fällen aber wichtiger, das richtige Lied oder das richtige Mädchen?