Eleonore Frey

Eleonore Frey, geboren 1939. Studierte Germanistik, Romanistik und Komparatistik. Neben ihrer umfassenden schriftstellerischen Tätigkeit ist sie auch als Übersetzerin tätig. Für ihr 2015 erschienenes Werk «Unterwegs nach Ochotsk» wurde Frey mit einem der Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Sie lebt in Zürich.
(2023)
Werke (Auswahl)
Cristina.
Engeler Verlag, 2022
Waldleute.
Engeler Verlag, 2018
Unterwegs nach Ochotsk.
Engeler Verlag, 2014
Muster aus Hans.
Droschl Literaturverlag, 2009
Siebzehn Dinge.
Droschl Literaturverlag, 2006
Lipp geht.
Droschl Literaturverlag, 1998
Das Siebentagebuch.
Droschl Literaturverlag, 1996
Notstand.
1989
Übersetzungen (Auswahl)
En route vers Okhotsk.
Übersetzt von Camille Luscher.
Quidam, 2018
Cristina
Engeler Verlag, 2022
Behutsam und glasklar erzählt die Autorin die Geschichte von Cristina, deren Lebensweichen früh gestellt sind: Beinahe noch ein Mädchen wird sie schwanger. Die Verwandten verbannen sie der Schande wegen von Lissabon aufs Land. Sofort nach der Geburt wird das Kind zur Adoption freigegeben. Cristina wird Hebamme, bringt Kinder zur Welt und findet eine späte Liebe – doch die Suche nach ihrem eigenen Kind wird nie aufhören. Eine tragische Geschichte, poetisch erzählt.
Aus: Eleonore Frey. Cristina. Engeler Verlag, 2022
«Warum erzählst du mir nicht einmal ganz genau, wie du zu dem Kind gekommen bist? Wie es kam, dass du, noch kaum aus der Schule, mit einem Matrosen in die Büsche gingst? Als ob du keine Ahnung gehabt hättest vor den möglichen Folgen der Sünde, vor denen man dich zuhause doch dringend gewarnt hat? Und wie es war, als dein Matrose nach Übersee verreiste, als deine Mutter die Schwangerschaft bemerkte, als sie dich abschob zur Tante aufs Land und als du dort das Kind zur Welt brachtest ...»
Sa, 20.05.23, 13:00
Unterwegs nach Ochotsk
Engeler Verlag, 2014
Ochotsk, das liegt in Sibirien. Keiner bereist den unwirtlichen Ort im Eismeer. In Gedanken aber sind sie alle unterwegs dahin, seit sie das Buch mit dem Titel «Unterwegs nach Ochotsk» in den Händen hielten: die Buchhändlerin, der Ein-Buch-Autor, der Hausarzt, die verrückte Alte. Vielfach kreuzen sich ihre Wege. In der Schweizer Stadt und doch weit weg.
Aus: Eleonore Frey. Unterwegs nach Ochotsk. Engeler Verlag, 2014
Links und rechts öffnet sich ein Ausblick, der blosslegt, dass Ochotsk keine Ortschaft ist, sondern kaum mehr als ein schon bald ins offene Gelände auslaufendes Netz aus wenigen, wenig belebten Strassen. Auf der Kreuzung schläft ein Hund … Hunde haben es dort vielleicht ganz gut, ist Ottos Kommentar. Und dann noch: Ochotsk liegt in der Landschaft, als wäre es ein ausgefranster Teppich, vom Himmel gefallen. Was ist, wo der Teppich aufhört?, will er wissen.
Fr, 30.05.14, 10:00
Muster aus Hans
Droschl Literaturverlag, 2009
Das Fremde und Andere hat Eleonore Frey schon immer beim Schreiben beschäftigt. Der junge Mann in ihrem Bericht «Muster aus Hans» (2009) steht ihr persönlich ganz nahe. Dabei ist es ihr gelungen, literarische Distanz und menschliches Mitgefühl miteinander zu verbinden. Das Leiden des Sohns wird nicht genannt und doch erkannt. Mit einer sensiblen Sprache wird das Muster gezeigt, das ihm das Leben auferlegt hat: «Hans ist anders als die anderen. Das sind die anderen auch. Er ist sein Anderssein, das anders ist».
Aus: Eleonore Frey. Muster aus Hans. Droschl Literaturverlag, 2009
Dort findet er dann und wann eine Frau, die wild ist wie er. Mit der steht er dann Auge in Auge nicht nur wenn Preis und Leistung verhandelt wird, sondern überhaupt. Mit ihr kann er sprechen und vergessen, dass die Sprache der Wilden eine Fremdsprache ist für die Gezähmten, die zur Entschädigung für den Verlust ihrer Freiheit unter anderem die Genugtuung haben, dass sie die sind, die bei allem, was das Reden betrifft, den Ton angeben. Denn ihnen strömen die Worte im Überfluss zu, während sich die wilden Männer und auch die selteneren wilden Frauen ständig bemühen müssen um jedes einzelne Wort.
Sa, 15.05.10, 16:00
Siebzehn Dinge
Droschl Literaturverlag, 2006
Aus: Eleonore Frey. Siebzehn Dinge. Droschl Literaturverlag, 2006
Ferner, mag sich Nina sagen, ist sie zu bestimmen als ein Mädchen oder, wenn man will, eine junge Frau. Das ist freilich weniger offensichtlich, als dass sie kein Hase ist. Wenn sie ihre grossen Ohrringe abnimmt und die Haare unter die Mütze steckt, sieht sie aus wie ein Junge. Das tut sie oft, wickelt einen Schal um den Hals und nennt sich Fritz. Wer bin ich? fragt Nina noch einmal und blickt sich ins Gesicht: Ich bin die Nummer 39, sagt sie, greift nach dem Schild, steckt es in den Mund und beisst hinein. Ich bin kein Baby mehr, sagt sie, wenn sie dann das Schild wieder fallen lässt wie ein Baby seinen Schnuller. Ich bin ein Junge. Ich bin ein Mädchen. Ich weiss nicht, was ich bin. Ich kann mich nicht entscheiden. Da ich nun also beides bin, bin ich eine Verlegenheit. Ich bin eine Vogelscheuche, fällt ihr da ein, und das hilft ihr nun wirklich aus der Not. Von einer Vogelscheuche verlangt kein Mensch, dass sie in aller Regelmässigkeit ein Junge oder ein Mädchen ist, ein Tier oder ein Mensch. In der anhaltenden Unsicherheit über ihre Person verschränkt Nina, die sich nach wie vor im Spiegel betrachtet, als wäre der Spiegel ein Käfig und sie drin eingesperrt, die Arme über der Brust und sagt damit, dass sie gerüstet ist gegen was immer. Ihr Gesicht ist unbeweglich auch in der Begegnung mit sich selber, was zwar Nina, aber nicht immer denen gefällt, die mit ihr zu tun haben, obwohl ihre entgeis-terten Züge von seltener Schönheit sind.
Fr, 18.05.07, 15:00
Lipp geht
Droschl Literaturverlag, 1998
Aus: Eleonore Frey. Lipp geht. Droschl Literaturverlag, 1998
Denn es gilt in Lipps Gesetzbuch nur, was nicht zählt. Das sind die Zwischenräume, weiss Lipp, und fasst beim Gehen auf, was sonst ausser Acht bleibt; die Stille zwischen zwei Schritten oder die Luft zwischen ihm und der, die vor ihm geht. Ein Nichts und noch ein Nichts fasst er auf - eine Atempause, einen blinden Fleck, einen toten Winkel. Wobei ihm die Welt zerfällt. Denn es ist noch nicht so weit, wie er es gern haben möchte; dass nämlich die Zwischenräume zum Tragen kommen. Deshalb muss er gehen von einem Stein zum andern, über den Bach. Und hoffen, dass ihm jemand die Hand reicht; indem eine oder einer mit ihm spricht. Das schlägt eine Brücke über den Zerfall und hilft ihm weiter, weiss Lipp: Indem jemand mit ihm Worte wechselt, nimmt er ihm die Angst. Wozu nicht alle Worte taugen; nicht solche dürfen es sein, die Blasen werfen (wenn jemand Luft spricht), sondern glatt wie Kiesel müssen sie sein; wie die, die übers Wasser hüpfen, wenn man sie richtig wirft: Worte, die sich sanft absetzen und über die Zunge gehen wie ein Hauch. Zum Beispiel Du. Oder Leb wohl. Das mag er gern. Und auch - etwas bewegter - was in Madames Dialekt klingt wie: drü tag rääge / drü tag schnee.
Sa, 23.05.98, 15:00
Sa, 10.05.97, 13:30
Das Siebentagebuch
Droschl Literaturverlag, 1996
Aus: Eleonore Frey. Das Siebentagebuch. Droschl Literaturverlag, 1996
Lanze ist weinender Vater. Dieses Wesen, das aus Dolores herausgeglitten war, war ihm das Fremdeste, Abgetrennteste. Es glitt aus dem Schoss in den Schauder des Glücks der, wie Heroin ins Blut einschiesst, die Leere ausfüllte, als ihn die Angst verliess. Er hatte von der Angst nicht einmal etwas gewusst. In seinem Glücksrausch erschrak er, als er durch die Tränen im Neugeborenen die Gesichtszüge von Dolores Mutter zu erkennen glaubte. Sie nannten das Kind Anna. Die Vorstellung, sie setze Dolores und Lanzes Leben fort, mit der doppelten Gefolgschaft der Millionen von Ahnen an den Fersen, konnte Lanze auf alle Arten haben. Er sah Bilder von langen Menschen schlangen von Geisterzügen, von Menschen auf der Flucht, von Herden, sah Stuben, Stimmen im Holz, Blumengebinde, Pferdewagen, Hochhäuser.
«Heute ist es nicht mehr so schlimm nur eine Mädchen zu haben», tröstete Olli. «Vielleicht wird sie Filmstar und hat es auch gut», hakte Toni nach. Lanze war den Tränen nahe. Einzig die Lady-die-die-Welt-nimmt-wie-sie-ist hielt zu ihm und sagte: «Nun lernst du die andere Hälfte des Himmels kennen.» Der Sommerregen klatschte an die Fenster der Bar, und Maldanseurs böser und ruheloser Geist grölte auf der andern Seite des Flusses mit dem Donner durch die Gassen der Fussgängerzone.
Fr, 17.05.96, 14:00
Notstand
1989
Aus: Eleonore Frey. Notstand. 1989
Blind vertrauen kannst du dem Spatz in der Hand. Ohne Sorge der Sonne. Dem Regen, wenn er die Wüste zum Blühen bringt. Dem Schnee. Auch der Frage nach dem Schatten ist zu trauen. Und freilich nicht blindlings, der Lust nach Licht. Nicht aber dem Vergissmeinnicht, auch wenn es noch so blau dich anblickt. Und obwohl es dem Nebel gleicht, der dem Blick entzieht, was er nicht sehen will - den Windbruch und die Narben im Gras -; obwohl es Spinnweben über die Wunden breitet, Fäden spinnt im Riss zwischen dir und dir: trau nicht dem Vergessen. Es kommt und geht, wo mans nicht braucht oder eben doch, und krass ragt dann aus der Seele der Abbruch. Trau ihm. Trau auch dem Verrat, er ist einmal für immer. Trau je blinder je besser dem Tod. Ja, trau trotz allem der Liebe. Nicht der, die dich trifft in Strahlen, die aufblitzt in Tränen oder Tautropfen, die hell ausbricht in Flammen. Das alles... trau nicht deinen Augen. Es ist ihnen nicht zu trauen. Aber ihr, der Liebe, wie sie still dahin... wie sie stumm dir ans Herz geht, ihr ist zu trauen. Trau blind der Not. Blind trau dem Vertrauen. Es reicht dir die Hand. Es führt dich zu dir.