Friederike Kretzen

Geboren 1956, lebt in Basel. (2012)
Werke (Auswahl)
Natascha, Véronique und Paul.
Stroemfeld Verlag, 2012
Weisses Album.
Verlag Nagel & Kimche AG, 2007
Ich bin ein Hügel.
Verlag Nagel & Kimche AG, 1998
Die Probe.
Verlag Nagel & Kimche AG, 1991
Mein heimliches Auge.
1982
Natascha, Véronique und Paul
Stroemfeld Verlag, 2012
Was war damals, im Sommer 1982, als sie, Natascha, Véronique und Paul, zusammen im Theater arbeiteten, französische Filme anschauten und sich in der WG-Küche die Köpfe heiss redeten, in Gesellschaft von Marx, Foucault und Jimi Hendrix? Als sie nach New York fuhren, um Woodstock zu sehen? Auch wenn alles immer weitergeht: etwas ist in dem langen Sommer zu Ende gegangen. Doch was genau? Und warum? Jetzt, nach dreissig Jahren, hat sich eine, die - vielleicht - dabei war, Rechenschaft abgelegt: Friederike Kretzen.
Aus: Friederike Kretzen. Natascha, Véronique und Paul. Stroemfeld Verlag, 2012
Sie zogen die Schultern hoch, bissen sich auf die Lippen, und wir hatten Angst, dass sie wieder diese leeren Augen kriegen könnten. Doch sie sagten: Etwas ist geschehen, es war in der Nacht, und es wurde Tag. Regt euch nicht auf, ihr werdet in eurer Zeit gelebt haben. Die Geschichte ist nicht vergangen, noch nicht einmal die Vergangenheit ist vergangen. Irgendwas ist da immer mit den Strömen, den Trieben, auf die ist Verlass. Dabei zeigten sie erneut durchs Fenster in die Bäume im Dunkeln. Elektrische Liebe durchzuckt den Himmel, alles elektrisch, schrien sie und lachten wie wild. Der Horizont, schaut euch das an, hat nachgegeben, und seitdem liegen Tag und Nacht Seite an Seite.
Fr, 18.05.12, 17:00
Sa, 19.05.12, 12:00
Weisses Album
Verlag Nagel & Kimche AG, 2007
Aus: Friederike Kretzen. Weisses Album. Verlag Nagel & Kimche AG, 2007
Ich bin vertieft, sagt Elschen. Jeder Schritt ist ein Schritt zu viel und der zuwenig. Geht es dir gut? fragt mich die Maskenbildnerin. Sie hat von mir geträumt. Pass auf dich auf, ruft sie mir nach. Schon zittere ich. Zu spät, zu früh, ich stürze die Treppe runter. Nein, es war doch die Tür ins Bad. Und das nächste Mal verwechsle ich sie und werde die andere nehmen? Ein Diener träumt, er begegne auf dem Markt dem Tod, der ihn drohend anschaut. Erschrocken wacht er auf, eilt zu seinem Herrn, berichtet ihm von seinem Traum. Er bittet um ein schnelles Pferd, er will Tag und Nacht nach Samara reiten, wo ihn der Tod nicht finden wird. Sein Herr gibt ihm das Pferd, er reitet sofort los. Am nächsten Morgen geht sein Herr, neugierig geworden, auf den Markt. Als er dem Tod begegnet, stellt er ihn zur Rede, warum er seinen Diener böse angeschaut habe. Der Tod antwortet, dass er ihn nicht böse angeschaut hätte, nur verwundert, ihn hier zu sehen, da er doch morgen mit ihm in Samara verabredet sei. Wenn es zu spät ist, ist es schon geschehen. Doch war es schon? Ist es früher geschehen, und alle Wege führen nach Samara? Auch der, zu bleiben und zu zittern? Hier ist da und vor hundert Jahren jetzt. Ich will aufpassen, nicht nur, wenn ich schlafe oder tot bin. Wer weiss das schon? Da liegt Samara und über den Seiten geht der Mond auf, der schräg im Himmel liegt und gelb ist wie die Sonne.
Sa, 19.05.07, 10:00
Ich bin ein Hügel
Verlag Nagel & Kimche AG, 1998
Aus: Friederike Kretzen. Ich bin ein Hügel. Verlag Nagel & Kimche AG, 1998
2. Ich nehme mein Bett und ziehe in das Zimmer, in dem schon mein Schreibtisch steht. Ich will nicht mehr auf der anderen Seite des Ehebetts neben meiner Mutter schlafen. Ich kann ihr Korsett nicht mehr sehen. Sie trägt immer nur das eine, die Schränke sind voll mit anderen. Die Strapse hängen ausgeleiert ins Leere, wenn sie das Korsett über die Stuhllehne hängt, die silbernen Häkchen an der Seite warten mit den Ösen auf der andern Seite in gegenseitiger Mäusestellung, bis sie sich wieder um ihren Bauch beissen. Während meine Mutter neben mir atmet. Sie träumt und bewegt sich, und ich weiss nicht, wo. Sie ist ein Planet, der in der Nacht, wenn niemand mehr sieht und keiner weiss, zu leben beginnt, und schon hat sie mich gesehen und sagt: Mein Kind, und droht mit dem Beil und will mich, Kopf und Rumpf und Arme und Beine voneinander getrennt, zu sich in den Bottich werfen. Sie ist ein Schwimmplanet. Und meint’s nicht bös, sagt sie, es muss nur sein. Und tut’s. Am Morgen blute ich. Nun ja, das ist so, und einmal ist immer das erste Mal. Meine Mutter sagt, du kannst auch ein Stück Stoff nehmen, eine Windel. Ich habe einen rosa Hüftgürtel, und ich weiss nicht, wie ich ihn anziehen soll und wo was dranhängen. Strümpfe, Binden, Beine. Von denen, wie ich es auch mache, immer ein Stück unbedeckt bleibt, nackt einfach, und die Kälte schneidet.
Fr, 22.05.98, 14:00
Sa, 10.05.97, 13:30
Aus: Königin, Jungfer, Elfe, ein Stückentwurf
Verlag Nagel & Kimche AG, 1991
Aus: Friederike Kretzen. Die Probe. Verlag Nagel & Kimche AG, 1991
Auf der Totenautoren-Kiste sitzen die Wörter und trinken Rum. Dazu kommen die Alten. Sie behaupten, das sei jetzt ihre Bühne. Stehen da und warten. Nicht bestellt und nicht abgeholt. Die kannste anbrüllen und alles, die gehen da nicht mehr runter. Reiner Trotz, abgesägte Hosen. In denen ist kein Funke Verstand mehr.
Wie konntet ihr so alt werden? Wir sind nicht schuld, sagen sie, alles ist immr so schnell gegangen. Gewohnheit. Dazu laächeln sie und setzen sich hin fürs erste so gut es geht. Wo bleibt der Schokoladenonkel? Und wo ist die Tante davon? fragt die mit der Wollmütze. Sie schreien auch und betteln und wispern. Es ist ihnen gelungen, abgeschlagene Gespenster zu werden. Mit dem Geschlecht im Eimer über Kamillendampf gegen Blasenentzündung, die so schnell chronisch wird. Gespenster, die die geschriebenen Küsse essen. Irgendwer muss ja diese Drecksarbeit machen und aufessen, was die Schriftsteller schreiben und nicht wegmachen wollen. Prost.
Sa, 11.05.91, 16:00
Aus: Königin, Jungfer, Elfe, ein Stückentwurf
Verlag Nagel & Kimche AG, 1991
Aus: Friederike Kretzen. Die Probe. Verlag Nagel & Kimche AG, 1991
Auf der Totenautoren-Kiste sitzen die Wörter und trinken Rum. Dazu kommen die Alten. Sie behaupten, das sei jetzt ihre Bühne. Stehen da und warten. Nicht bestellt und nicht abgeholt. Die kannste anbrüllen und alles, die gehen da nicht mehr runter. Reiner Trotz, abgesägte Hosen. In denen ist kein Funke Verstand mehr.
Wie konntet ihr so alt werden? Wir sind nicht schuld, sagen sie, alles ist immr so schnell gegangen. Gewohnheit. Dazu laächeln sie und setzen sich hin fürs erste so gut es geht. Wo bleibt der Schokoladenonkel? Und wo ist die Tante davon? fragt die mit der Wollmütze. Sie schreien auch und betteln und wispern. Es ist ihnen gelungen, abgeschlagene Gespenster zu werden. Mit dem Geschlecht im Eimer über Kamillendampf gegen Blasenentzündung, die so schnell chronisch wird. Gespenster, die die geschriebenen Küsse essen. Irgendwer muss ja diese Drecksarbeit machen und aufessen, was die Schriftsteller schreiben und nicht wegmachen wollen. Prost.