Gerhard Roth
Aus: Über Bienen
Eines Tages in der Schwarmzeit nahm der Bienenzüchter, Herr Zmugg, einen Lockenwickler zur Hand, steckte die Bienenkönigin hinein und liess das Bienenvolk auf sich Platz nehmen. Ich dachte, er umarmt den Bien. Ein Teil der Bienen schwärmte sirrend in der Luft, ein Teil bildete eine Traube auf seiner Hand, ein Teil liess sich auf seinen Beinen nieder. Ich sah - ohne es zu wissen - das Schlusskapitel meines Romans, aber ich begriff, dass mein Buch ein Organismus aus frei fliegenden Zellen wie der Bien sein würde.
Die Natur ist nur ein anderes Wort für Zusammenhang, dachte ich, sie ist nicht das tote Präparat unter dem Mikroskop, nicht die Ratte auf dem Seziertisch oder die anatomische Zeichnung in einem Biologielehrbuch. Unsere Vorstellung von Natur beruht auf einer toten Natur. Die Natur ist ein unendliches Geflecht, ein Zusammenhangsgeknäuel, ein lebendiger Gordischer Knoten, dessen Fäden sich nur mit Gewalt voneinander trennen lassen.
Herr Zmugg sass wie ein Wanderer aus den Gefilden des Gartens Eden. Keine Biene stach ihn. Für kurze Zeit existierte die Utopie der Wesensgleichheit von Mensch und Tier- und, als gäbe es eine neue Sprache, ein neues Denken - es herrschte Friede.