Gertrud Leutenegger

Geboren 1948 in Schwyz. Sie studierte Regie an der Schauspielakademie in Zürich. Seit 1975 veröffentlicht sie Romane, Essays, Gedichte und Theaterstücke. Nach zahlreichen Aufenthalten in Florenz und Berlin lebte sie längere Zeit in Japan. (2021)
Werke (Auswahl)
Späte Gäste.
Suhrkamp Verlag, 2020
Das Klavier auf dem Schillerstein.
Nimbus. Kunst und Bücher AG, 2017
Panischer Frühling.
Suhrkamp Verlag, 2014
Matutin.
Suhrkamp Verlag, 2008
Pomona.
Suhrkamp Verlag, 2004
Acheron.
Suhrkamp Verlag, 1994
Meduse.
1988
Komm ins Schiff.
1983
Vorabend.
Suhrkamp Verlag, 1975
Übersetzungen (Auswahl)
Gertrud Leutenegger. Panique printanière.
Übersetzt von Lionel Felchlin.
Editions Zoé, 2017
Späte Gäste
Suhrkamp Verlag, 2020
Die Ich-Erzählerin in Gertrud Leutenenggers Roman kehrt in das Tessiner Bergdorf zurück, in dem sie mit ihrem langjährigen, nun verstorbenen Lebenspartner und Vater ihres Kindes bis zur Trennung gelebt hat. Die Nacht vor der Totenfeier verbringt sie in einem verlassenen Waldhotel. Erinnerungen suchen sie heim, karnevaleske Gestalten vom Fest jenseits der nahen Grenze bedrängen sie, die Flüchtlingsnot in Italien rückt ins Bild. Ein so stilles wie eindringliches Buch um Liebe, Vergänglichkeit und Tod.
Die Veranstaltungen der 43. Solothurner Literaturtage fanden aufgrund der Corona-Pandemie hauptsächlich als Video- und Audio-Livestreams sowie Zoom-Veranstaltungen statt.
Aus: Gertrud Leutenegger. Späte Gäste. Suhrkamp Verlag, 2020
Es dunkelt schon, als ich den ovalen Platz unter den Bäumen betrete. Nichts rührt sich, nur der Kies knirscht unter meinen Schritten. Kein Luftzug geht hier oben, ein klarer Februarabend, in der Tiefe liegt über der Lombardei ein von diffusen Lichtern erhellter Nebelschleier. Lange lehne ich auf dem Friedhof den Kopf an die verriegelte Tür der Totenkapelle, im Sommer von Schwalbengezwitscher erfüllt, undurchdringliche Schwärze schlägt mir durch die zwei Türfenster entgegen, nicht den geringsten Umriß des Sargs kann ich erkennen.
So, 16.05.21, 10:00
So, 16.05.21, 16:00
Panischer Frühling
Suhrkamp Verlag, 2014
Eine Frau lebt im Frühling 2010 in London und nimmt die Ereignisse jener Monate, angefangen beim Vulkanausbruch in Island bis hin zu ihren Bekanntschaften mit den pakistanischen und bengalischen Bewohnern des Londoner East End, mit grosser Offenheit auf. Zentral werden für sie die Gespräche mit einem Zeitungs-verkäufer auf der London Bridge.
Aus: Gertrud Leutenegger. Panischer Frühling. Suhrkamp Verlag, 2014
An jenem Morgen im April, als auf einmal vollkommene Stille im Luftraum über London herrschte, lief ich zum Trafalgar Square. Der Platz lag noch im Schatten, nur hoch oben auf seiner Säule, in unerreichbarer Einsamkeit, stand Lord Nelson schon im Sonnenlicht. Sein Dreispitz wirkte schwarz vor dem Himmel, der von solcher Bläue war, dass es unglaublich erschien, wie eine Aschewolke dieses isländischen Vulkans den europäischen Luftverkehr lahmgelegt hatte. Alle Geräusche der erwachten Stadt drängten ungehindert und geradezu triumphie-rend in die Leere empor. Auf den roten Bussen glänzte die Feuchtigkeit des Taus. England war wieder ein Inselreich.
Fr, 30.05.14, 15:00
Matutin
Suhrkamp Verlag, 2008
Was will die Kustodin denn bloss machen im Turm? Sie kann auf die Stadt, blicken, und auf das, was sie hinter sich gelassen hat. Täglich wird ihr eine Portion Polenta vor die Tür gestellt, und immer wieder schaut eine rätselhafte Frau vorbei. Dreissig Tage verbringt die Ich-Erzählerin im Vogelfangturm, dann bricht sie auf, ins Neue, Unbekannte. «Matutin», Gertrud Leuteneggers jüngster Roman, fasziniert durch seine grosse atmosphärische Dichte, in der Traum und Realität unablässig ineinander übergehen.
Aus: Gertrud Leutenegger. Matutin. Suhrkamp Verlag, 2008
Ich taste mit den Händen über mein nasses Gesicht und sehe mich verwundert in einem fremden Bett liegen. Draussen dämmert es. Mein erster Turmtag bricht an.
Unwahrscheinlich. Man hat mich gestern auf der Stadtverwaltung, trotz einiger Bedenken, als Kustodin des Turms eingestellt. Ich verschwieg natürlich, dass ich erst am späten Morgen, nach längerer Zugfahrt, hier eingetroffen war. Wieder die Treppenstufen zum Stadtzentrum hinabzusteigen, in das Stimmengeschwirr des grossen Platzes einzutauchen, hinter dem die weite Fläche des Sees glitzerte, links und rechts die beiden kegelförmigen Berge aufragten, brachte mich in die Nähe des Wahnsinns. War ich nicht immer hier geblieben?
Pomona
Suhrkamp Verlag, 2004
Aus: Gertrud Leutenegger. Pomona. Suhrkamp Verlag, 2004
Die Apfelhurden, die eine ganze Wand des Kellers einnahmen, wurden von meiner Mutter vor dem Eintreffen der Äpfel sorgfältig mit Zeitungen ausgelegt. Ich war ihr dabei behilflich, genauer ausgedrückt, nahm ich, wenn sie den Keller bereits wieder verlassen hatte, gewisse Veränderungen vor. Die Lagerstatt der Berner Rosen durfte auf keinen Fall irgendeine Todesanzeige aufweisen, von denen die Zeitungen oft wimmelten; ich war nun einmal davon durchdrungen, dass es Unglück bringen würde, wenn mein liebster Apfel auf eine Todesanzeige zu liegen käme, er konnte von einer unheilbaren Krankheit angesteckt werden, nicht umsonst hatte ich, auf der dunklen Treppe sitzend, von Klara gehört, wie die Berner Rose oft von Krebs befallen werde, und da die Äpfel beim Entleeren aus den Harassen wild durcheinanderpurzelten, mal auf der Kelchgrube, mal auf der Stielgrube zum Stillstand kamen, und besonders diese letztere häufig durch Fleischwülste verengt und auffällig berostet war, fürchtete ich gerade dort ein Einfallstor für das Verderben, und überhaupt beeinträchtigte eine Todesanzeige die festliche Aura des Rosenapfels.
Fr, 21.05.04, 10:00
Acheron
Suhrkamp Verlag, 1994
Aus: Gertrud Leutenegger. Acheron. Suhrkamp Verlag, 1994
Schon vor meiner nächtlichen Bekanntschaft mit Tenko dachte ich oft: es ist ein Land, in dem man sich an die Frauen hält. Dies erstaunte mich umso mehr, da ich vorher in einer ausschliesslich männlichen Welt gelebt hatte. Aber so durchlässig, verwundbar, gezeichnet von Arbeit, Scheitern und durchgestandenen Gefahren jene Welt war, so glatt und unnahbar erschienen mir die Männer hier, als fände sich ein Riss, durch den etwas Fremdes zerstörerisch und aufwühlend eindringen könnte. Vielleicht empfand ich dies aber auch nur so, weil in mir immer noch, obwohl die Baracke längst abgetragen war, der Weissdorn flackerte. Ich selbst hatte alles Schweifende verloren, in meinem eigenen Innern glühte die Ferne, warf ein Unbekannter tiefe Schatten. Warum reiste ich noch? Nicht um die Abgründe zu überspringen, sondern um sie zu verschärfen. Ein Irrsinn, der zur Irrfahrt wurde? Doch nie bin ich leichter unterwegs gewesen. Zwar wäre ich wahrscheinlich daran gesundet, einer kräftigen Projektion zu erliegen, einer bereits vielfach inszenierten Selbsttäuschung, es hätte mich den Männern dieses Landes ähnlicher gemacht. Statt dessen bin ich auf diesem Schiff, das ruhig durch die Nacht gleitet, zu ruhig für meinen Schmerz: werden Tenkos Fingerspitzen nie mehr meinen Handrücken berühren? Wie konnte ich die Gewissheit verdrängen, dass ich Tenko verlieren würde? Auch Tenko! Nicht nur den Signor; wie ein Verlust sich in den andern mischt, und eine Süsse in die andere,
Fr, 13.05.94, 10:00
Fr, 10.05.91, 16:00
Fr, 10.05.91, 20:30
Meduse
1988
Aus: Gertrud Leutenegger. Meduse. 1988
Zu einem bestimmten Zeitpunkt meines Lebens sah ich aus dem Meer eine Meduse auftauchen, gross wie ein Kinderkopf, rosa marmoriert, mit Fangfäden, die tief ins Wasser hinabhingen. Unvermittelt aber zerflossen diese wie Haare in den grauen Wellenmassen, die Meduse schaukelte auf mich zu, wobei sie ihre Ränder bald aufblähte, bald zusammenzog. Wider Willen betrachtete ich länger die zarte, doch durchdringende Erscheinung. Etwas unbedingt mich Angehendes strahlte mir daraus entgegen, schon untergegangen oder noch gestaltlos, Flut umspülte meine Füsse, das Meer, aus dem wir alle kommen
Hinter mir auf den Dünen blühten, in Form von niedrigen Sträuchern wilde Kamillen, ein luftiger vom Meer zurück- gelassener Weit dehnte sich der Sandstrand bis zum Horizont. Die Meduse schien alle Lichtfarben des Meeres in sich aufgesogen zu haben, eine schillernd erleuchtete Kuppe schwebte sie heran, doch war das überhaupt noch die Meduse? Sie wuchs, langsam, aber unaufhaltsam, wuchs aus den hochstrudelnden Wellen Das Meer floss, milchiger Schaum, von ihr ab, schon krümmten sich trocken die Fangfaden, wucherten empor, grünten auf: im Sommerwind rauschende Bäume! Birken glühten zwischen dunk len Kastaniengruppen, Dächer aus Graten schoben sich, feucht bemooste Steinflächen, ineinander, und ein Glockenturm, verwittert, schlank, durchschnitt den Abend das Gewinde eines Materialaufzugs surrte, aus dem Meer er ob sich Rovina
Sa, 14.05.88, 17:00
Komm ins Schiff
1983