Gisela Rudolf
Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
GAW Weissenstein, 2010
Kindergeschichten haben wir schon viele gelesen - doch Gisela Rudolf erzählt diese Geschichte noch einmal neu: Zum einen gibt sie einen atmosphärischen Einblick in eine bürgerliche Familie im Solothurnischen in den 1950er-Jahren. Die Eltern stammen aus dem Wallis, man ist erzkatholisch, hat ein Dienstmädchen und diskutiert am Tisch über James Dean, die Ungarnkrise oder Iris von Roten. Das kleine Mädchen versteht das alles nicht: Es stellt «dumme Fragen» und plaudert ungeniert über Dinge, die sich in diesen Kreisen nicht gehören. Eine Unzähmbare ist sie, und ein Trotzkopf. «Schi pofft», pflegt Mama dann in ihrem Walliserdeutsch zu sagen. Und das ist das andere, das an diesem Buch fasziniert: Die Kinderperspektive, die ihre ganz eigene Sprache hat.
Aus: Gisela Rudolf. Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen . GAW Weissenstein, 2010
Tante Amanda ist mit ihrem neuen Mann Aldo Crivelli hier. Trotz seines italienischen Namens ist er Schweizer. Das erklärt sie denen, die nicht an ihrer Hochzeit waren und nun die Fotos anschauen. Mit seinen dunklen Locken und dem braunen Teint könnte er ein Frauenheld sein, er ist aber keiner, hat Mama erklärt, sondern gut katholisch. Papa mag ihn sehr. Bis auf seine schlechte Kinderstube. Beim letzten Besuch hat Onkel Aldo nämlich die Füsse auf unseren Salontisch gelegt. Zwar ohne Schuhe, aber es hat Papa gleichwohl geärgert. Tante Amanda hat sich mit ihm deswegen gestritten. «Mein Aldo ist Architekt und nicht weniger als du mit deinem Doktortitel», hat sie ausgerufen.