Giuseppe Gracia
Santinis Frau
Ammann Verlag, 2006
Aus: Giuseppe Gracia. Santinis Frau. Ammann Verlag, 2006
Den Körper von Santinis Frau begehrte ich nicht und auch nicht die Stimme oder den Intellekt von Santinis Frau. Ich begehrte Santinis Frau nicht wegen ihrer Augen, ich begehrte nicht den Duft ihrer Haut und nicht die Landschaft über ihrem Bauchnabel. Ich begehrte Santinis Frau nicht wegen ihres Humors. Es war auch nicht Eifersucht auf Santinis Glück, nie war ich eifersüchtig auf Santinis Glück und habe ihn immer geliebt wie sonst nur Sofia und habe ihm immer das Beste gewünscht wie sonst nur Sofia.
Am Ende lag es daran, daß sie kein Gesicht hatte. Tatsächlich war es mir nicht ein einziges Mal möglich, das Gesicht von Santinis Frau zu sehen. Nie habe ich bei ihr ein Gesicht gesehen, von dem ich hätte sagen können, das sei jetzt aber wirklich ein Gesicht oder wenigstens ein Menschengesicht oder wenigstens das Gesicht von Santinis Frau, ich meine ein ganz normales wunderbares häßliches Gesicht, wie es bei jeder Person eines Tages zum Vorschein kommt, wenn sie in völliger Bewußtlosigkeit für Sekunden ihre Maske verliert. Nur nicht bei Santinis Frau. Ich bin sicher, nie ist die Maske von Santinis Frau gefallen, weil Santinis Frau ihr Gesicht nicht nur besser verstecken konnte als wir alle, sondern auch vor uns allen, auch vor ihrem Mann, auch vor ihren Kindern.
Zum ersten Mal sah ich sie, als sie für die Hochzeitsvorbereitungen in unsere Stadt kam und mir mitteilte, sie wolle ihren Heimatort, der ihr nie etwas bedeutet habe, aufgeben und sich bei uns niederlassen und mit Santini zwei bis drei Kinder zeugen.