Hans-Peter Kunisch
Die Verlängerung des Markts in den Abend
2006
Aus: Hans-Peter Kunisch. Die Verlängerung des Markts in den Abend. 2006
«Ich bin Malerin», dachte Rosa, «ich bin eine Malerin.» Mit einem Schielen beobachtete sie all die Mücken, die über ihrer linken Schulter tänzelten, torkelten und sich fallen liessen, um schliesslich sanft zu landen und zu stechen. «Ich bin Malerin», dachte Rosa, «aber ich habe auch viel Blut.» Plötzlich bewegte sich etwas vor ihr. Die andere hatte einen Schritt getan, nach Minuten zum ersten Mal. Auch ihr mussten die Mücken zu schaffen machen. Rosa schloss die Augen wieder. Es war ihr nicht wichtig, ob das nun wirklich die beste Taktik war: auf den Angriff der anderen zu warten. Vielleicht wollte sie selber nur faul sein und gerne noch ein paar Minuten stehen bleiben. Oder hatten sich etwa beide ohne Absprache dazu entschlossen, die in leisem Geplauder um die Arena wartenden Menschen zu reizen? «Ich bin Malerin», dachte Rosa noch einmal, «aber ich werde das nie können.» Gleich neben der Wiese, auf der Rosa ihre Jugend verbracht hatte, stand eine zierliche Kirche auf einem in die Breite wuchernden Felsen über dem Tal. Meist hatte Rosa nur mit langen Blicken dorthin geschaut, aber einmal war sie geduldig über das steile Kopfsteinpflaster zur Burgkirche hochgetrottet, die Türe war offen gestanden, Rosa war die letzten Stufen hinaufgeklettert und innen plötzlich stehen geblieben. «So wie jetzt», dachte sie.