Helen Meier

1929–2021. Geboren in Mels (SG), lebte seit 1987 in Trogen. Studium der Pädagogik an der Universität Fribourg. Arbeitete als Grund- und Sonderschullehrerin, als Tibetbetreuerin für das Rote Kreuz und ab 1987 als freie Schriftstellerin. (2014)
Werke (Auswahl)
Kleine Beweise der Freundschaft.
Edition Xanthippe , 2014
Schlafwandel.
Ammann Verlag, 2006
Adieu, Herr Landammann! Sieben Begegnungen mit Jacob Zellweger-Zuberbühler.
Appenzeller Verlag, 2001
Die gegessene Rose.
1995
Die Novizin.
Ammann Verlag, 1995
Lebenleben.
1989
Trockenwiese.
1984
Kleine Beweise der Freundschaft
Edition Xanthippe , 2014
«Wo sind die Jahre hin?», lässt die Autorin eine ihrer Erzählerinnen fragen. Ihre neuen Geschichten erzählen von denen, die den Jahren nachtrauern oder die sich nicht unterkriegen lassen, nur weil ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt. Schonungslos beschreibt Helen Meier die Bürden des Alters, die damit verbundenen milden Sehnsüchte ebenso wie die bösen Gefühle.
Aus: Helen Meier. Kleine Beweise der Freundschaft. Edition Xanthippe , 2014
Er ist am Schaufeln einer Grube. Statt aufzuhören macht er weiter. Aufhören ist schwer. Schaufeln ist leichter. Leicht ist das Gefühl, die Anzahl seiner Jahre seien weggewischt. Er könnte wieder einmal Goethe lesen. Jeder sehe zu, wie er’s treibe. Zusehen, wie’s der getrieben hat, mit achtzig noch an seinem Hauptwerk, ist schwerer als schwer. Er schaufelt. Das ist besser als Nichtstun. Nichtstun macht ihn depressiv. Sein Lebensmut wird erschüttert. Früher hat er sich mit gut essen und trinken noch aufgeheitert. Das geht nicht mehr.
So, 01.06.14, 11:00
Schlafwandel
Ammann Verlag, 2006
Aus: Helen Meier. Schlafwandel. Ammann Verlag, 2006
«Miguel liest nicht mehr, er tut nur so. Wenn Sie Storm kennen würden, hätten Sie es gemerkt. Er erzählt mir immer wieder aus seinem Leben, etwas weit Abliegendes, vielleicht von dem, was er nach dem Krieg in einer Monatsschrift, sie hiess ‹Das Recht und die Gerechtigkeit›, gelesen oder geschrieben hat. Im hohen Alter scheint die Zeit die Ewigkeit der Geschehnisse zu sein.» Eine Art von seltsamer Sehnsucht nach den Erinnerungen dieser zwei Menschen überkam Nora. Versammelten die nicht ihr Erlebtes immerwährend um sich, fest wie ein Turm, leicht wie ein Hauch, zauberisches Spiel, das zum weitoffenen Fenster hereinfloss? «Hören kann ich noch gut, ich höre Radio, mein Sohn nimmt Vorträge auf Band auf. Aber am Ende bleibt doch alles Geschwätz. Das zweiseitige Reden aber, der unmittelbare Austausch von zweien, die sich etwas zu sagen haben» – Frau Laube wandte sich an Nora – «das ist wundervoll, und ich sehne mich oft nach solchen Gesprächen. Reden Sie aber nicht zu viel, reden Sie nur, wenn Sie nicht anders können, wenn Sie ihr Inneres blosslegen müssen, damit die andere nicht erblindet.» Sie lächelte Celestina an, legte die Hand auf ihren Arm. Draussen gleisste der See, Luft weht frühsommerlich über sie weg. Frau Laube griff nach dem Fernglas.
Sa, 27.05.06, 19:30
Adieu, Herr Landammann! Sieben Begegnungen mit Jacob Zellweger-Zuberbühler
Appenzeller Verlag, 2001
Fr, 10.05.02, 15:00
Die Novizin
Ammann Verlag, 1995
Aus: Helen Meier. Die Novizin. Ammann Verlag, 1995
Die Augenblicke, in denen ich Herz begegnete, sind vorüber, kommen nicht wieder, und doch liegt alles in ihnen. Ich erinnere mich an diese Augenblicke. Die Erinnerung täuscht mich, aber ich mag diese Täuschung. Sie gibt mir Freiheit. Ich behandle die Erinnerung, wie es mir gefällt, wie es mir dient. Ob sie der Wahrheit entspricht, ist mir gleichgültig. Was ist Wahrheit? Es gibt keine oder nur die, die ich will. Gezwungenermassen getauscht, schönfärberisch, aufgeregt und gelangweilt, erinnere ich mich an Herz. Sie ist ein junges Mädchen. Und ich bin eine alte Frau. Es ist verständlich, dass ich junge Mädchen hasse und liebe. Ich suche ihre Lebendigkeit zu beschneiden, und ich will zugleich überwältigt sein von eben dieser Lebendigkeit. In meinen Gefühlen für Herz liegt Verachtung und Verehrung. Ich merke, dass mir meine Jahre keinen Vorsprung geben im Gegenteil, ich bin der jungen Herz unterlegen. Welche Lasten werfe ich auf sie! Alle unerfüllten Begierden, all die Lächerlichkeiten eines krüppelhaften Wesens, das sein Leben lang die Vernunft walten liess, all die Schlauheit einer mühsam errungenen Erfahrung will ich von ihr fernhalten...
Sa, 27.05.95, 09:00
Lebenleben
1989
Aus: Helen Meier. Lebenleben. 1989
Die Ebene aus Aeckern und Wiesland, die vor dem Haus gelegen war, war eine Moorlandschaft geworden mit Farnen, Schachtelhalmen, Birken, als Dori kam, sass die Familie vor einer Felsenhöhle. Mutter gab Dori zu essen, Vater gähnte gutgelaunt, Richi rauchte Pfeife, neben ihm sass Nina, das Finöggeli, mit gekreuzten Beinen unter seidenem Gewand, sog mit gespitzten Lippen an einem Zigarettenhalter. Vater, Mutter trugen Fellkleider, was Dorn zu einem ihrer Lachanfalle hinriss, sie zog ihre Schuhe, die Strümpfe aus, setzte sich neben Vater. Wie hübsch die weissen Füsschen von Dori gewesen sein mussten, Anna erinnert sich des Traums, den Dori erzählt hatte, bevor sie an die Schläuche kam.
Anna liegt ausserhalb des Traums an der Sonne. Es ist still, vielleicht war es am Anfang der Welt so still, als wäre nichts. Am Anfang, am Ende nichts, nein, Anna kann das nicht glauben. Zwischen Ende und Anfang, das glaubt Anna, sind unzusammenhängende schwache Erinnerungen, an das, was einst ein Leben war.
In Wahrheit gibt es keine Erinnerung. Wenn sie ist, ist sie falsch, eine Verzerrung des Leidens, ein Verrat an der Freude. Sie ist der Rausch eines Bewusstseins, das am Ende des Verhungerns sich selbst auffrisst Auch sie, Anna, gibt es nicht. Wenn es sie gegeben hätte, hätte es keine Erinnerung gegeben. Wer frei ist von ihr, der lebt.
Fr, 05.05.89, 11:00
Trockenwiese
1984