Judith Giovannelli-Blocher
Das gefrorene Meer
Piper Verlag, 1999
Aus: Judith Giovannelli-Blocher. Das gefrorene Meer. Piper Verlag, 1999
Lore stellt sich zwischen zwei Grabsteinen auf die Zehen, stützt sich mit den Händen auf und schwingt die nackten Füsse in der Sonne hin und her. Plötzlich gibt der eine Stein nach, sie stürzt und der fallende Stein begräbt ihren Unterleib. Sie versucht sich zu bewegen, aber es geht nicht, von der Brust an abwärts ist sie eingeklemmt. Augentrost kitzelt ihre Wange, über ihr steht dunkel eine Eibe und schaut bewegungslos auf sie herab. Werde ich jetzt gleich sterben? fragt sich Lore verwundert. Sie ist erstaunt, dass sterben nicht weh tut. In der Luft verhallt das Elfuhrgeläute, dann ist es totenstill. Ein Marienkäfer krabbelt über ihre Brust.Mit grosse Sätzen kommt der Messmer angelaufen. „Um Gottes willen, Lore! Herr Jesses, Herr Jesses, sag etwas, kannst du noch schnaufen?“ Er reisst die im Stein eingeklemmte Schürze los und zieht dann die ganze Lore heraus. Wie durch ein Wunder ist sie unverletzt. Der Stein prallte beim Sturz auf die eiserne Grabnummer, wodurch ein Zwischenraum entstand, knapp gross genug für ihren Körper. „Herrgott, hast du Glück gehabt, Mädchen!“ Lore streift sich vorsichtig über Hüfte und Bauch, um etwas zu sagen, ist sie zu verwirrt. Stumm verdrückt sie sich in den Garten, betrachtet auf der Bank vor dem Waschhaus ihre unversehrten Beine.