Jürg Amann

1947–2013. Geboren in Winterthur, lebte in der Nähe von Zürich. Der Germanist Amann war Dramaturg am Zürcher Schauspielhaus und arbeitete als Literaturkritiker für den Tages-Anzeiger und das Schweizer Radio. Seit 1976 war er als freier Schriftsteller tätig. Für seine Erzählung «Rondo» erhielt er den Ingeborg-Bachmann-Preis. Sein Werk umfasst nebst erzählenden Texten und Gedichten vor allem eine Fülle von Hörspielen und Theaterstücken. Jürg Amann starb am 5. Mai 2013 in Zürich. (2015)
Werke (Auswahl)
Die Reise zum Horizont.
Haymon Verlag, 2010
Am Ufer des Flusses.
Haymon Verlag, 2001
Ach, diese Wege sind sehr dunkel.
1985
Franz Kafka.
1983
Die Reise zum Horizont
Haymon Verlag, 2010
Was haben Kafka, der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß und das «Wunder der Anden» gemein-sam? Sie alle hat Jürg Amann in literarischen Texten zu einem neuen Leben erweckt. Seinen Wer-ken gehen häufig sehr aufwändige Recherchen voraus. Er sichtet dokumentarisches Material, und daraus entstehen in langen künstlerischen Prozessen Texte. In der Novelle «Die Reise zum Horizont» geht es um einen historischen Flugzeugabsturz aus den 1970er-Jahren, der brisante Monolog Der Kommandant führt in den Kopf eines Nazi-Kommandanten, und schliesslich hat Amann verschollen geglaubte Kafka-Briefe aufgespürt: «Die Briefe der Puppe». Seine drei jüngsten Werke führen meis-terhaft vor, wie Realität sich allmählich verändert und ein literarisches Eigenleben gewinnt.
Aus: Jürg Amann. Die Reise zum Horizont. Haymon Verlag, 2010
Nach dem Aufschlag war es zuerst ganz still gewesen. Still wie still. Kein Vergleich. Mit nichts. Obwohl das natürlich gar nicht sein konnte. Gehörsturz vielleicht, nach dem plötzlichen Weltsturz. Nach dem Druckabfall von einem Augenblick auf den andern. Druckabfall, Druckanstieg? Druck-explosion jedenfalls. Lautlos. Eine vorübergehende Taubheit. Taubheit der Seele. Dessen, was man gewohnt war, Seele zu nennen. Keinerlei Geräusch mitten in der Hölle.
Sa, 04.06.11, 10:00
So, 05.06.11, 14:00
Am Ufer des Flusses
Haymon Verlag, 2001
Aus: Jürg Amann. Am Ufer des Flusses. Haymon Verlag, 2001
Eine Krankenschwester kam ins Zimmer, um das Fenster zu richten, und ging wieder hinaus. Ich hustete. Ich hustete wieder. Ich trug eine Erkältung mit mir herum, mitten im Sommer. Küss mich, sagte mein Cousin, plötzlich, in die nach meinem Husten entstandene Stille hinein. Draussen zog ruhig der Fluss vorbei, von dessen anderem Ufer undeutlich Rufe zu hören waren. Das wäre das Ende, sagte ich, indem ich aufstand. Aber ich küsste ihn, auf die Stirn.
Inzwischen war es Abend geworden. Die Besuchszeit war abgelaufen. Jud war erschöpft. Sein Kopf, der fast keine Haare mehr hatte, war tief in die Kissen zurückgefallen, so dass der Kehlkopf der eine langsame Schluckbewegung machte, am nach hinten gebogenen Hals unnatürlich hervorstach. Im durch das Fenster flach einfallenden Abendlicht trat der Schädel immer deutlicher in sein Gesicht. Ein schwacher Sonnenstrahl strich über das Krückenpaar, das in der tiefen Ecke des Zimmers stand, als ob nichts gewesen wäre, und zitterte dann über die Bettkante, bevor er erlosch. Auf meine Frage, wie er seine Mutter nur habe umbringen können, sagte Jud: mit meiner letzten Kraft. Als ich ihn fragte, was kommt nach dem Tod?, sagte er: nichts.
So, 27.05.01, 13:30
Ach, diese Wege sind sehr dunkel
1985
Fr, 29.05.87, 14:00
Franz Kafka
1983