Simon Bischoff

geboren 1951, lebt in Rom (1988)

1988

Aus: Die roten Lippen, Erzählung

Er sah Si' Belaïd, den Barbier, in seiner gestreiften Foukija. War er noch hier? Si' Belaïd mit seinem grauen Bart, seinen bärenstarken Armen, seiner tiefen, rauhen Männerstimme, vor der alle kleinen Jungen im Dorf davonrannten, wenn sie irgendwo zu hören war. Si' Belaïd, mit seinen Fingern voll Blut. Er schlachtete auch Schafe, wenn es not tat, setzte sein grosses Messer an die Kehle des Tiers und zog es schnell und kräftig durch das lebende Fleisch. Und die kleinen Jungen mochten lange vor ihm davonrennen, keiner entging Si' Belaïds Schlächter- und Beschneiderfingern. Finger, die sich an jedem Knaben im Dorf vergriffen, Blu forderten. Es schoss jeweils wie eine kleine Fontaine hervor. Und die Mütter weinten und sangen und schlugen die Trommeln... L'hascham ar alik ra ulidi bi nidik...
Fouad hatte die Blutfontäne hervorschiessen sehen. Hatte gespürt, wie es warm über seine Schenkel rann, warm und nass und rot. Sein Vater hielt ihn von hinten mit seinen starken Armen auf dem Schoss fest. Seine grüne Foukija, leuchtenes Giftgrün, war bis über den Bauchnabel hochgezogen, und seine kleinen, nackten Knabenbeine waren weit gespreizt, in den Knien abgewinkelt, die Füsse ängstlich und zitternd aneinandergepresst. Die Schere, die Si' Belaïd einem Tuch entrollte, hatte der kleine Fouad nur kurz gesehen. Das Blut floss wie bei einer Frau.

Guck mal dort oben, der kleine Vogel..., siehst du wie er wegfliegt?! hatte die rauhe Männerstimme gesprochen.
Der Knabe hob seinen Kopf und suchte den kleinen Vogel. Dann durchdrang ihn der grausige, scharfe, schwindelerregende Schmerz. Die Blutfontäne. Der Knabe schrie und fiel sogleich in Ohnmacht.

 

Sa, 14.05.88, 11:30

Lesung
Kreuzsaal