Urs Faes

Geboren 1947 in Aarau, aufgewachsen im Suhrental. Nach kurzer Lehrtätigkeit begann er 1969 das Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie an der Universität Zürich. Lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter zweimal den Schillerpreis. (2017)
Werke (Auswahl)
Halt auf Verlangen.
Suhrkamp Verlag, 2017
Sommer in Brandenburg.
2014
Paris. Eine Liebe.
Suhrkamp Verlag, 2012
Paarbildung.
Suhrkamp Verlag, 2010
Als hätte die Stille Türen.
Suhrkamp Verlag, 2005
Und Ruth.
Suhrkamp Verlag, 2001
Ombra.
Suhrkamp Verlag, 1997
Alphabet des Abschieds.
Suhrkamp Verlag, 1991
Webfehler.
Lenos Verlag, 1983
Übersetzungen (Auswahl)
Twelve Nights.
Übersetzt von Jamie Lee Searle.
Harwill Secker
, 2020
Halt auf Verlangen
Suhrkamp Verlag, 2017
Mit sprachlicher Sorgfalt erzählt Urs Faes in seinem autobiografischen Roman einfühlsam von der Krebstherapie des Protagonisten. Während der täglichen Tramfahrten zur Klinik und mit dem möglichen Tod vor Augen ruft dieser sich Szenen seines bisherigen Lebens in Erinnerung.
Aus: Urs Faes. Halt auf Verlangen. Suhrkamp Verlag, 2017
Bald sieben. Er würde in die Morgendämmerung hineinfahren.
Er hörte das Tram, drehte den Kopf nach rechts und nach links, eilte über die Strasse und zwängte sich in die Menge; Fahrgäste, die dicht an dicht standen, Morgengesichter auf dem Weg zur Arbeit. Meist fuhr er im Elfer nur bis Hauptbahnhof, eine Fahrt von wenigen Minuten, und nahm dann einen der Intercityzüge, die ihn in die Ferne trugen, nach Basel, Berlin oder Wien. An diesem Morgen war keine Fernreise vorgesehen; heute würde er sitzen bleiben und fast bis zur Endstation fahren auf den Hügel am Stadtrand, wo sich die Spezialkliniken angesiedelt hatten. Hirslanden, Balgrist. Rehalp.
Fr, 26.05.17, 10:00
Sa, 27.05.17, 16:00
Paarbildung
Suhrkamp Verlag, 2010
Urs Faes gehört seit langen Jahren zu den festen Werten der Schweizer Literatur. «Bis ans Ende der Erinnerung» hiess einer seiner frühen Romane (1986). Das Thema des Erinnerns, des Schmerzes des Erinnerns auch, hat ihn seither nicht losgelassen. Sein neuer Roman «Paarbildung» erscheint im Spätsommer und handelt von der Wiederbegegnung in der radioonkologischen Abteilung eines Spitals, wo der Psychoonkologe Andreas Lüscher und die Patientin Meret Etter nach sechzehn Jahren überraschend wieder aufeinander treffen.
Aus: Urs Faes. Paarbildung. Suhrkamp Verlag, 2010
Dieses Flimmern, während sie da sitzt, auf dieser Bank und die Kälte von den Füssen heraufkriecht, sie frösteln lässt; wie lange sitzt sie schon auf dieser Bank, der Schnee glitzert, die Sonne leckt an den gefrorenen Zweigen, sie muss weiter, will aufstehen, diesen Weg entlang gehen zwischen den Gebäuden, nasser Beton gesprenkelt, das sieht sie jetzt. Ein Taxi, denkt sie, mit dem Taxi zum Bahnhof, die vielen Geleise, ein offenes Geleisefeld, wie die Lymphbahnen, ein Gelände, aufgefächert, dann Knoten, die sammeln, dreizehn sind tumorfrei, aber eben nicht alle. Sie geht langsam, folgt den Rillen der Betonplatten, da vorn ist das grosse Tor, die Säulen, die in den Himmel ragen, weisse Säulen mit den Namen der Neugeborenen; man müsste, denkt sie, auch schwarze Säulen aufstellen, mit den Namen der Toten.
Sa, 15.05.10, 10:00
Als hätte die Stille Türen
Suhrkamp Verlag, 2005
Aus: Urs Faes. Als hätte die Stille Türen. Suhrkamp Verlag, 2005
Und ich bin heute noch erstaunt, dass das Singen mein Beruf geworden ist. Kein Traumberuf.
Sie erzählte von einem Liederabend, den sie eben zum letzten Mal gegeben habe unter dem einfachen Motto Amore Amore, nach einem Madrigal von Monteverdi, das Lamento der Nymphe, italienische Opernmelodien, etwa das Sesto aus der Clemenza di Tito, Amino aus der Sonnambula von Bellini, etwas von Meyerbeer.
Sie schritten in ein Bild hinein, eine Winterlandschaft. Von Corot, dachte er, fliehende Gestalten, unschlüssig, von der Kälte gebeutelt, trotzig.
Ich halte die Kälte nicht mehr aus.
Sie schlang die Arme um den Oberkörper. Ihr Gesicht war rot vor Kälte.
Da vorn ist eine Kneipe.
Sie betraten eine verrauchte Gaststube, in der die Menschen sich an kleinen Tischen dicht zusammendrängten, als müssten sie sich gegenseitig wärmen, und Tee und Punsch schlürften.
Als er sie bat, sie möchten sich doch duzen, nahm sie an, ohne Begeisterung. Sie hätte sich auch vorstellen können, beim Sie zu bleiben, sagte sie und erwähnte diese altfranzösische Form, die Distanz und Vertrautheit zugleich meine.
Sie sagte einige Sätze auf Französisch.
Zweisprachig? fragte er.
Eine Mutter aus dem Welschland, eine Vaudoise, und ein Vater aus der Ostschweiz …
Fr, 06.05.05, 16:00
Und Ruth
Suhrkamp Verlag, 2001
Aus: Urs Faes. Und Ruth. Suhrkamp Verlag, 2001
Langsam kommt die Frau auf mich zu, wie eine Forderung, die kein Ausweichen zulässt.
Ich mache einige Schritte rückwärts, bis ich am äussersten Rand des Bahnsteiges stehe. Mit einem nächsten Schritt wäre ich ins Leere getreten.
Ich weiche dem Blick aus, diesen Augen, die leicht vorstehen und von einem seltsamen Grau der Pupillen dominiert werden, suche ihren Namen. Ich versuche mich an die Namen von Frauen, die ich gekannt und aus den Augen verloren habe, zu erinnern. Ihre Stimme, fordernd, unnachsichtig, ist unablässig da –
Ich verwünschte das Alter, mein schwindendes Gedächtnis, fühlte mich auf diesem Bahnsteig an einem frostkalten Wintermorgen der Lächerlichkeit preisgegeben. Und keiner der Namen, die ich mit immer grösser werdender Unruhe nicht nur abrief, sondern vor mich hinmurmelte, schien mit diesem Gesicht, diesem Augengrau, auch nur das geringste zu tun zu haben; immer absurdere Namen fielen mir ein. Der Name, der zu diesem Gesicht vor mir gehörte, wollte mir nicht einfallen. Musterte sie mich nun herausfordernd? Das Gesicht angespannt, die Wangen bleich, die Lippen schmal, die Miene streng: so stand ihr Bild vor meinen Augen.
Ich blieb stumm.
Die Wörter zerbröselten, noch ehe ich sie hätte aussprechen können. Der einfahrende Zug zwang mich, einen Schritt vom Bahnsteig zurückzutreten.
Warum ging sie nicht zurück?
So, 27.05.01, 13:30
Ombra
Suhrkamp Verlag, 1997
Aus: Urs Faes. Ombra. Suhrkamp Verlag, 1997
Noch sucht der Maler die endgültige Form für das angefangene Bild, zwei Bildszenen, scharf getrennt und doch zu einem Ganzen gefügt, Nacht und Tag, Vergangenheit und Gegenwart -
Wie im Traum hat der Maler gemalt, den Tod auf den Fersen -
seit Wochen ist er auf der Flucht, zu unerträglich war der Gestank der Leichen in den Strassen seiner Stadt, täglich wurden sie von den Bütteln eingesammelt, hinausgekarrt, in die Grube geworfen und mit Kalk bestreut.
Heimlich ist er aufgebrochen, ein paar Stifte, Farbe, ein wenig Leinwand ist in seinem Bündel, er meidet die Städte und stellt doch fest, die Seuche ist überall, Gestank und eilig zugeworfene Gruben. Er zieht südwärts, hofft, dass die Seuche da schon gewesen ist, zieht durchs Valle Umbra, findet in Assisi bei den Franziskanermönchen Unterschlupf, verweilt vor den Bildern, einige nehmen ihn gefangen, Lorenzettis Geisselung im Querhaus, nicht weit davon der Heilige Franz, der auf den Tod hinweist, einen düsteren Gesellen, dem die Krone vom kahlen Haupt fällt. Franz legt ihm den linken Arm auf die Knochenschulter, als begrüsse er einen nicht zu fürchtenden Gefährten.
Fr, 09.05.97, 14:00
Alphabet des Abschieds
Suhrkamp Verlag, 1991
Aus: Urs Faes. Alphabet des Abschieds. Suhrkamp Verlag, 1991
Sie betrachtete ihn, wie er langsam neben ihr schritt, die Arme schlenkernd.
War er es wirklich? Oder träumte sie das nur? Spielten sie beide ein Spiel, dessen Regeln sie nicht kannten? Spielten, um keine Antwort geben zu müssen auf so viele Fragen.
Wie man gelebt hatte seither? Kann man darüber reden? Ein Bild geben, das nur annähernd stimmt. Und wichtig wäre bloss, was man auslässt. Die Retouchen, die man anbringt auf der Photographie. Das Vergangene umgraben, die Fundstücke besehen. Will sie das?
Und wäre sie dem gewachsen, was dabei zum Vorschein kommt: die Lüge vielleicht, der Betrug, das Versäumte. Wie wäre zu leben damit?
Am Fenster steht die Frau, eine Frau wie Nicole, streicht sich durch das Haar. Auf dem Bett sitzt der Mann, ein Mann wie Paul, den Kopf in die Hände gestützt, grübelnd. Blickt manchmal hinüber zu der Frau, kurz und scheu. Er sieht ihre ratlose Gestalt, ihre schmalen Füsse in den viel zu leichten Schuhen -
Fr, 10.05.91, 17:00
Webfehler
Lenos Verlag, 1983