Urs Widmer

1938-2014. Geboren in Basel. Studium der Germanistik, Romanistik und Geschichte. Arbeitete als Verlagslektor im Walter Verlag, Olten, und im Suhrkamp Verlag, Frankfurt. Mit anderen Lektoren gründete er 1969 den Verlag der Autoren. Der Autor von Theaterstücken und Romanen wurde für sein umfangreiches Werk vielfach ausgezeichnet. Er starb nach langer Krankheit am 2.4.2014 in Zürich. (2014)
Werke (Auswahl)
Dann wird es sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch.
Rotpunkt Verlag, 2015
Reise an den Rand des Universums.
Diogenes Verlag, 2013
Gesammelte Erzählungen.
Diogenes Verlag, 2013
Ein Leben als Zwerg.
Diogenes Verlag, 2006
Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück.
Diogenes Verlag, 2002
Liebesbrief für Mary.
Diogenes Verlag, 1995
Der blaue Siphon.
Diogenes Verlag, 1992
Das aufrechte Fähnlein Gottfried Kellers.
Diogenes Verlag, 1990
Der Kongress der Paläolepidopterologen.
Diogenes Verlag, 1989
Indianersommer.
Diogenes Verlag, 1985
Vom Fenster meines Hauses aus.
Diogenes Verlag, 1977
Übersetzungen (Auswahl)
Urs Widmer. Viaggio al confine dell'universo.
Übersetzt von Roberta Gado.
Reise an den Rand des Universums
Diogenes Verlag, 2013
Aus: Urs Widmer. Reise an den Rand des Universums. Diogenes Verlag, 2013
Immer näher rücken mir die Erinnerungen in ihrer puren Nüchternheit. Ich bin in der Falle des eigenen Lebens. Es ist wie bei einer Sanduhr: Der Sand, anfangs überreich im obern Glas, rinnt unerbittlich nach unten, und an einem Tag ist die letzte Erfindung, die in etwas Erlebtem wurzelt, erzählt.
Ein Leben als Zwerg
Diogenes Verlag, 2006
Aus: Urs Widmer. Ein Leben als Zwerg. Diogenes Verlag, 2006
Ich heisse Vigolette alt. Ich bin ein Zwerg. Ich bin acht Zentimeter gross und aus Gummi. Hinten, so etwa im Kreuz, hatte ich einmal ein rundes Etwas aus Metall, und wenn mir jemand, ein Mensch mit seinen Riesenkräften, auf den Gummibauch drückte, pfiff es. Pfiff ich. Das Metallding ist aber längst von mir gefallen, und ich pfeife nicht mehr. Die Menschen – die Kinder der Menschen vor allem – denken, ich sei ein Spielzeug. Ein Spielzwerg. Sie haben recht, aber sie kennen nur die halbe Wahrheit. Wenn ein Menschenblick auf einen von uns fällt, auf einen Zwerg, wird er steif und starr und ist gezwungen, in der immer selben Haltung zu verharren. Eine Lebensstarre, die jeden von uns so lange beherrscht, als Menschenaugen auf uns ruhen. Sie überfällt uns eine Hundertstelsekunde, bevor der Blick uns erreicht, und verlässt uns ebenso sofort, wenn der Mensch wieder woandershin blickt. Ich habe dann die Arme am Körper wie in einer etwas nachlässigen Hab-achtstellung und mache ein dummes Gesicht. Mein Mund steht offen, und meine Augenlider sind bis über die Mitte der Iris gesenkt. Wenn aber niemand schaut, sind wir Zwerge äusserst fix. Wir können wie Irrwische durch die Wohnungen sausen, Tischbeine hinauf, Tischbeine hinunter, wir gehen die glatten Wände hoch, wenn es sein muss.
So, 28.05.06, 15:30
Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück
Diogenes Verlag, 2002
Aus: Urs Widmer. Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück. Diogenes Verlag, 2002
Aber es gibt das Glück. Es ist selten, es ist flüchtig, es ist kostbar. Aber jene, die es erlebt haben, wissen, dass es existiert. Vielleicht ist just diesen Glücklichen am deutlichsten, dass das Glück nicht das Ziel des einzelnen sein kann, sondern – wie das die klugen Amerikaner schon im Jahr 1788 erkannt hatten – das der Gesellschaft werden muss, denn es kann kein einzelnes Glück im allgemeinen Unglück geben. Es gibt, um Adorno zu variieren, kein richtiges Glück im falschen.
Sa, 31.05.03, 12:00
Sa, 31.05.03, 20:30
Liebesbrief für Mary
Diogenes Verlag, 1995
Aus: Urs Widmer. Liebesbrief für Mary. Diogenes Verlag, 1995
Der Brief Helmuts, der das Herz dieses Buches bildet, war für eine Frau bestimmt, die ihn später auch zu Gesicht bekam, in Nosucks, Australien, einem aus zwei, drei Häuser bestehenden Ort mitten in der Warburton-Wüste, wo sie seit einiger Zeit lebt, die mir lang und kurz vorkommt, und mit einem Tankwart liiert ist, einem John Smith, einem Abori- gine, der aussieht, als sei er in einen Aschenkübel gefallen. Grau. Er hat auch einen Namen, so wie er dort üblich ist, Akwerkepenty, was «Weit reisendes Kind» bedeuten soll. Er ist zwar alles andere als ein Kind, steuert aber zuweilen sein Auto, einen ebenso grauen und ähnlich zerbeulten Pritschenwagen der Marke Toyota, in die siebenhundert Meilen entfernte Grenzstadt, wenn er Mary ins Kino ausführt, unsichtbaren Songlines entlang. Helmut war ein Freund von mir, ein Schriftsteller wie ich. Wir haben dieselbe Schule besucht, hier in Zürich, ein Gymnasium, an dem sein Vater Mathematiklehrer war. Wir lernten unser Rechnen aber bei einem anderen Lehrer, einem Herrn Schwager, der eines Morgens mitten im Unterricht aufschrie, jetzt reiche es ihm aber, und türenschlagend den Raum verliess. Dabei hatte Fredi Spiess, der auch schon tot ist, nur behauptet, dass der Satz des Pythagoras E=mc2 laute.
Sa, 22.05.93, 11:00
Der Kongress der Paläolepidopterologen
Diogenes Verlag, 1989
Aus: Urs Widmer. Der Kongress der Paläolepidopterologen. Diogenes Verlag, 1989
The Butterfly: «Beginning and End of Mankind» erschien am 18. Oktober 1960 in der Venezia Press, Los Angeles. Charles Bonalumi, dem kein besserer Verlagsname eingefallen war, hatte das Buch selbst übersetzt, zum einen, weil er von jedem einzelnen Wort begeistert war, zum andern, weil er einen Uebersetzer nicht bezahlen konnte. Er hatte in der Küche seiner Pizzeria einen Tisch freigeräumt, an den er sich setzte, sobald keine Bestellung vorlag, und Dutzende von Pizzas anbrennen lassen, weil er auch während des Backens nur an Schmetterlinge dachte. Es war ihm egal. Er bebte vor Aufregung über Gustis Theorie, die aus dem bislang marginalen Fachgebiet Paläolepidopterologie eine der Physik oder Astronomie vergleichbare Wissenschaft machte. Allerdings konnte er vieles - Gustis Handschrift war was sie war - nicht lesen und erschloss es aus dem Zusammenhang. Auch sprach er ja nicht deutsch, und eigentlich auch nicht englisch - liess sich zuweilen von der japanischen Kassiererin beraten -, und so war seine Uebersetzung schliesslich ziemlich frei und hatte ein eher venezianisches Brio, mit einigen fernöstlichen Glanzlichtern. Trotzdem aber oder gerade deswegen eroberte sie sich fast sofort den zweiten Platz auf allen Bestsellerlisten...
So, 07.05.89, 13:00
Indianersommer
Diogenes Verlag, 1985
Vom Fenster meines Hauses aus
Diogenes Verlag, 1977