Barbara Schibli
Wir an einem Ort
von Barbara Schibli
Wir an einem Ort
1. Anna
Die Neue dreht sich auf dem Bürostuhl um sich selbst. Ein Mädchen wie
eine Turbine. Sonst ist nicht viel los, ich surfe im Netz. Gebe meinen
Namen bei einer Suchmaschine ein. Ich bin in einem Schwimmverein in
Herisau und lege in einer Diskothek in Novosibirsk auf. Man hat mich
gesehen in einer Bar, in der ich nicht war. Und in einem Videoclip lacht mich ein Kind an, ruft Anna, kommt näher und sagt: Du bist die falsche.
2. Hängig
Was dokumentieren wir eigentlich?, frage ich meine Schwester. Sie
lächelt in den Rauch hinaus. Mein Kopf ist sturm, zu viele Marylongs.
Wir bewegen uns zu schnell, sagt sie, um dokumentiert zu werden. Deshalb sind wir auf dieser Seite. Am runden Tisch wird geschoben, von oben
nach unten zählt dreifach. Meine Schwester macht sich derweil breit an
der Bar. Sie zählt doppelt. Mutter sagte immer, nimm nie zwei. Wir sind
eineiig. Mit dem Zeigefinger fährt Paula über die Klebestelle, die unter sich den Tabak verschliesst. So weich ist meine Schwester selten.
Auf dem Heimweg verliere ich sie. Sie bleibt in einer Tanne hängen. Die
Haare hätten sich verfangen. Bei unserer Mutter war es wenigstens noch
eine Fledermaus. Diese Geschichte erzählt sie immer wieder. Wie die Magd geschrieen hätte, weil das Viech nicht mehr aus den Haaren raus zu
kriegen war. Nur dass Mutter mit der Fledermaus überall hätte hingehen
können. Mit der Tanne aber kommt meine Schwester nie weg von Bever. Auf
immer dieses Bergkaff. Bis dass dann auch ein ovales Schwarzweissfoto in ihren Grabstein aus Schiefergneis eingelassen wird. Wie bei unserer
Grossmutter, der Anna Pitschna. Weiter als in die Garage ist sie nicht
gekommen. Dort aber gut gehangen. Pitschna heisst bei uns „die Kleine“,
aber die volle Länge von etwas sieht man erst, wenn es hängt. Anna sieht auf dem Grabsteinfoto aus wie aus einer anderen Zeit. Aber Paula ist
Fotografin. Wenn sie sich nicht zu schnell bewegt, wird sie sich schon
als Kind unserer Zeit hinkriegen.
Ein Bescheid für ein Aufenthaltsstipendium in Treviso ist hängig. Wenn
Paula anruft, ist Gaetano gerade am Essen, in Paris, in einer Sitzung,
nächste Woche wäre gut, ihre Mappe liege zuoberst auf dem Stapel. Geh
doch allein auf den Mont Ventoux, sagt meine Schwester statt, verpiss
dich. Ich träume von uns immer verschwommen. Paula sagt, dass sei weil
wir uns zu schnell bewegten. Paula wird es schon wissen. Sie spürt auch
den Eisprung. Dann muss sie eine Nummer schieben. Mutter spielt jeden
Samstag Lotto. Sie spielt für zwei Franken und hat nicht selten einen
Dreier. Früher hatten wir einen Krämerladen. Paula verkaufte mir das
Kilo Brot für sechs Franken. In Bever scheint sich nichts zu bewegen.
Und so verliebe ich mich auch jedes Mal, wenn ich wieder da bin, in
Peider. Er findet, ich werde jedes Mal städtischer. Eine richtige
Zürichkatze sei ich schon. Peider sitzt mit am runden Tisch.
Mutter toupiert ihr Haar nach wie vor. Nur nicht mehr zu einem hohen
Turm. Jetzt ist sie kürzer als mit zwanzig. Mutter lächelt auf dem Foto, auf dem man sie mit dem selbst gehäkelten Hochzeitsschleier sieht.
Meine Schwester lächelt nicht mehr, als ich wieder frage, was
dokumentieren wir eigentlich? Sie stösst mich zur Seite, verlässt das
Lokal. Madlaina hinter der Bar sieht mich vorwurfsvoll an. Sie ist
empfindlich, seit sie auf den Bescheid wartet. Weißt du, was das in
Treviso ist? Ich lege die acht Franken auf die Theke. Beim Rausgehen
nicke ich Peider zu. Er schaut kurz auf, dann ist er wieder versunken in die Karten. Er und sein Jasskumpan haben gerade den Bergpreis erreicht. Als ich die Türklinke in der Hand habe, fährt mir Madlainas Grazia
fitsch vorwurfsvoll in den Rücken. Draussen hätte ich gerne das
Knirschen von Schnee unter den Sohlen.
Beim Frühstück am nächsten Morgen sagt Paula, von solchen Abenden bleibt immer etwas hängen, sicher ist der Rauch in den Haaren. Ich sage, dass
ich Annas Zopf zu einem Kreis gewunden neben meinem Bett aufgehängt
hätte. Worauf Mutter sagt, dass das gar nicht stimme, dass Anna immer in Bever gelebt hätte. Mit neunzehn sei sie ins Unterland zum Grossvater,
doch in Zürich konnten sie nicht bleiben, weil das mit dem Konkubinat
nicht erlaubt war, da zogen sie nach Spreitenbach. Aber nur für einige
Monate, dann seien sie wieder nach Bever gekommen.
An meinem Kühlschrank in Zürich hängen Postkarten von Bever. Paula
schickt sie mir regelmässig. Als wäre sie dort in den Ferien. Das letzte Mal als Mutter in meine Wohnung kam, brachte sie Spachtelmasse mit und
besserte damit Dübellöcher aus. Auch wenn du nicht auf immer hier
bleibst, wie ein Provisorium muss es ja doch nicht gerade aussehen.
Ihr gefällt das grosse Ölbild, das ich letzte Woche im Brockenhaus der
Heilsarmee gefunden habe und das nun in meinem Wohnzimmer hängt: eine
mächtige Rottanne mit Schnee auf den Ästen.
Am nächsten Dienstag fährt Paula nach Treviso. Sie hat einen Termin bei
Gaetano. Paula sagt, mit Treviso wird sich etwas herauskristallisieren.
Aber in Bever will der Schnee in diesem Jahr nicht fallen. Das sei wegen der Globalisierung, sagt meine Schwester. Es werde wärmer, weil alles
näher zusammenrücke, alles eins werde. Eigentlich seien Bever und
Treviso dasselbe. Das Weggehen könne man sich also sparen.
Wir warten und werden weiter dokumentieren.
3. Ambrosia
In der Luft fliegen Pollen. Eine einzige der aus Amerika eingeschleppten Ambrosia-Pflanze kann mehrere hundert Millionen Pollen ausbilden. Sie
machen Allergikern das Leben schwer. Mit Handschuhen und Mundschutz
werden die Pflanzen ausgerissen und in Kehrichtsäcken zur
Verbrennungs-anlage gebracht.
Mir ist unheimlich zumute. Der Sommer hängt schwer in der Stadt.
Ich habe einen Termin bei der Dentalhygienikerin. Mutter sagte immer, zu den Zähnen musst du schauen, sonst bekommst du mal so Theater wie ich.
Ich will kein Theater im Mund. Die Frau im weissen Mantel will wissen,
ob ich Medikamente nehme und ob ich gegen etwas allergisch bin. Dann
muss ich den Mund öffnen. Sie sagt, starke Verfärbungen, und will
wissen, wie viel ich rauche. Dann ortet sie eine Bisslinie auf der
Innenseite der Wange. Schlimme Träume in der Nacht, junge Frau? Ambrosia zumindest wird den Winter nicht überleben, der Frost tötet die Pflanze.
Aus den Boxen dröhnt Techno. Die Zigarette zwischen meinen Fingern
vibriert davon. Ich habe die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen
gebunden. Beim Tanzen schwingt und wippt er. Mein Körper ist gespannt,
und stolz spüre ich die Muskeln in den Beinen. Bereit für einen
Dauerlauf. Vasja ist schon seit einiger Zeit nach draussen verschwunden. Doch dort, wo die Discokugel sich langsam dreht, sind wir eins und
unsere Fingernägel deckungsgleich. Und wenn wir dann im Bett liegen
werden, wird sie mir alles erzählen. Ein Kuss, mit der Zunge, weißt du.
Auch Vasjas Finger waren schon an Orten, von denen meine nur träumen.
Doch bevor sie mir die Zungen- und andere Höhlenspielen erzählt, holt
sie noch einen Spray aus ihrer Handtasche und spritzt mir davon in den
Mund und auf die Finger. Mutter, die immer wartet und manchmal noch im
Bademantel in der Küche sitzt, darf nichts von den Gitanes riechen,
sonst kommt Vasja dran.
Mutter trug neben den verschiedensten Bademänteln auch einmal ein
Brautkleid. Doch damit wurde sie geraubt. Man hat sie in die Berge
entführt. Ein alter Brauch bei uns. Dabei hätte sie am liebsten die Hand unter jene ihres soeben Angetrauten geschoben, auf dass ihre Finger
unter den seinen hervor wachsen mögen. Doch als sie von ihren Brüdern
befreit wurde und zurück an ihr Fest kam, war dieses in vollem Gange.
Man schien sie nicht vermisst zu haben. Noch mit uns schwanger, reiste
sie von Pristina in die Schweiz. Hat uns eingeschleppt. Ambrosia
immerhin ist einjährig.
Der Sommer hängt schwer über der Stadt. Und in der Mitte des
Gelenkbuses, dort wo der Boden aus einer Drehscheibe besteht, dreht sich ein kleines Mädchen, vier Jahre alt, immerzu um sich selbst. In den
Kurven, wenn die Drehung eine doppelte wird, lacht es laut. Die ganze
Fahrt über. Es scheint ihm weder schwindlig noch langweilig dabei zu
werden. Das Spiel entfacht sich immer wieder aufs Neue. Nur meine Augen
sind irritiert und brennen. Die ganze Stadt liegt in Ambrosia.
An diesen Sommer werden wir uns erinnern. Dejan liess sich den Oberarm
tätowieren. Und die eine Nachbarin lässt sich gegen Grippe impfen. Eine
andere Botox spritzen. Und in den Strassen riecht es nach
Ausgangssperre. Alles wie leer gefegt. Alle sitzen vor ihren Fernsehern
und schauen sich die WM an. Und draussen fliegt Ambrosia durch die Luft. Es findet sich seinen Weg auch durch dünne Fensterritzen. Nur Regen und Nächte helfen.
Vasja und ich schlafen nicht mehr im selben Zimmer. Nicht mehr in der
selben Wohnung. Nicht mehr in der selben Stadt. Nicht mehr im selben
Kanton. Die Nächte scheinen uns heute noch mehr zu trennen als damals.
Und so rufe ich sie manchmal am Morgen an und frage, wie war deine
Nacht?
Der Kanton hat einen Ambrosia-Beauftragten. Er ist überzeugt, dass man
die Verbreitung der Pflanze noch eindämmen kann. Es bedürfe dafür aber
der Mitwirkung der ganzen Bevölkerung. Jeder Gemeinde wurde eine
Ambrosia-Pflanze im Topf zugeschickt, damit man an Ort und Stelle über
Vergleichspflanzen verfügt. Das Mitwirken beim Kampf gegen Ambrosia ist
obligatorisch. Wer seine Verantwortung nicht wahrnimmt, kann nach dem
Landwirtschaftsgesetz gerichtlich belangt werden. Mir ist unheimlich
zumute.
4. Einzelkinder
Ich habe zu lange gewartet, jetzt hängen die Quitten lahm in den Ästen.
Amaya schreibt aus San Sebastian. Sie komme vor Sommer nicht zurück. Von den andern schreibt sie nichts. Bald ist Allerseelen. Die alten Frauen
tragen wieder in seitlich aufgeschlitzten Plastiktüten Grabschmuck zum
Friedhof. Mutter sagte immer, bleib in der Schweiz, dann wirst du auch
nicht alt. San Sebastian erschöpft. Der Wind zieht streng durch die
Strassen. Die Gesichter werden hart. Einmal werde ich mich entscheiden
müssen, wo mein Grab liegen soll. In San Sebastian müssen jetzt die
Kakis reif sein.
Ich arbeite viel in diesen Tagen, eigentlich pausenlos. Und doch scheine ich nirgends hin zu kommen. Oft starre ich durch den Bildschirm
hindurch. Ich warte auf eine Postkarte von Amaya. Vor zwei Wochen musste ich mich übergeben und von der Arbeit nach Hause. Die ganze Abteilung
hätte sich Sorgen um mich gemacht. Oder ob ich einfach schwanger sei?
Vieles ist mir hier zu nah. Von Anfang an.
Am Abend blättere ich manchmal im Atlas. San Sebastian ist immer darin
und das mehrfach. Das Buch aufgeschlagen auf den Knien, flimmert es vor
meinen Augen. Manchmal sehe ich sie und manchmal nicht, die Naht, die
die Welt zusammenhält, aber auch in zwei Teile teilt. Amaya hat auch
eine Naht, über den Bauch. Als wäre Hektor mit einem Teigrad darüber
gefahren. Sie hat ihn nicht Aitor getauft. Im Sommer kommt er in den
Kindergarten. Bis dahin jongliert er bestimmt in Mutters Garten mit den
Kakifrüchten und lacht. Aber nicht alles wird reif. Das zweite Herz, das man auf dem Ultraschall sah. Amaya schreit, das sei ihr Leben. Einmal
schreit sie auch, San Sebastian sei schon lange nicht mehr das, was ich
meine.
Amayas Postkarten hängen mit Magneten am Kühlschrank. San Sebastian in
Farbe. San Sebastian Schwarzweiss. San Sebastian Panorama, Land und
Leute. Meine Schwester vergisst mich nicht.
5. Bewegungsmelder
Immer wieder die Tür, die sich nicht öffnet. Die Neue taucht aus der
Kaffeepause nicht mehr auf. Nach einer halben Stunde drücke ich die
Taste am Telefon, die eine automatische Stimme aktiviert, die sagen
wird, dass das Büro von acht bis zwölf und von dreizehn Uhr dreissig bis sechzehn Uhr bedient sei. Wer anrufen wird, wird etwas irritiert auf
seine Armbanduhr schauen. Weiter wird nichts geschehen. Man wird wieder
anrufen. Ich hole am Kiosk gegenüber ein Päckchen Parisiennes.
Im Bus hat es jeden Morgen einen hustenden Mann. Ich setze mich immer
so, dass ich ihn im Rücken habe. Ich will nicht sehen, wie es seinen
Oberkörper umher wirft. Es ist dieses Husten, das alte Männer Mitte
sechzig haben. Sie sitzen da und husten, husten als hätte ihr Husten
einfach seine Berechtigung, nehmen die Hände nicht vor den Mund. Onkel
Georg hustet auch so. Wenn er hustet, gehe ich auf die Toilette. Wenn er lange hustet, rauche ich dort eine Zigarette. Öffne das Fenster, und
blase meinen Rauch über die Badewanne hinweg nach draussen. Wenn ich
fertig bin, schnippe ich die Zigarette ins Klo und spüle. Und jedes Mal
vergesse ich, dass sie dabei nicht untergeht. Ich fische sie raus, lasse sie noch etwas abtropfen und werfe sie dann in diesen Abfalleimer mit
dem Schwingdeckel. Der Deckel schwingt noch, wenn ich schon lange wieder im Zimmer bin. Ich gehe an der Küche vorbei, bleibe kurz im Türrahmen
stehen, Gute Nacht, Onkel Georg. Er nickt. Vielleicht bekommt er in ein
paar Jahren auch diesen wippenden Kopf, den viele alte Männer um die
siebzig haben. Dieses unkontrollierte Wippen, wie wenn der Kopf
losgelöst vom Hals sein Eigenleben hätte. Die Welt muss für diese Männer ständig in Bewegung sein. Und bis Onkel Georg siebzig ist, sitzt er am
Küchentisch und wartet, auf dass etwas passiere. Und isst und isst.
Meist Fleischkäse. Im Winter wird er gebraten.
Wenn ich im Winter nach Büroschluss beim Haus von Onkel Georg ankomme,
dann ist es schon dunkel. Wenn man zwei Meter von der Eingangstür
entfernt ist, geht das Licht rechts neben der Tür an. Ich erschrecke
mich jedes Mal. Das Licht ist falsch eingestellt, weil bis zum Moment,
in dem man bei der Türe ist und das Licht brauchen würde um den
Schlüssel ins Loch stecken zu können, ist das Licht schon wieder aus.
Das Licht sollte Einbrecher fernhalten. Auch bis zum Aufschliessen des
Briefkastens reicht das Licht nicht aus. Früher begann ein Tag mit der
frischen Post. Mutter legte die meine auf den Frühstücksteller. Jetzt
muss ich sie jeweils abgestanden abends aus dem Kasten holen. Mutter
schreibt aus Lima. Nein: Sie antwortet. Nosotros tambien. Als würden wir noch etwas teilen. Ausser Vaters Geld. Er überweist es jeweils an Onkel Georg. Dann klopft Onkel Georg an meine Zimmertür und ruft meinen
Namen, den ich sonst nie von ihm höre. Paloma. Und ruft, Herbert hat das Geld geschickt. Und wenn ich öffne, drückt er mir die Scheine in die
Hand. Auf den Postkarten unterschreibt Mutter auch für Vater. Onkel
Georg grüssen sie nicht. Eine alte Geschichte zwischen Brüdern.
Irgendetwas mit einem Chevrolet.
Vor zwei Jahren wurden Mariana und ich zu Onkel Georg geschickt. Seit da wohnen wir hier und machen die Ausbildung im Muttersitz von Vaters
Konzern. Und lösen die Chevrolet-Schuld aus. Aber Mariana ist nie da,
sie hat ein Geschleif.
Auf Vaters privater Homepage ist ein Foto vom Haus in der Calle de
flores. Ein hoher Maschenzaun umgibt es. In dieser Stadt kann man sich
einfach nicht bewegen, hör ich Vater sagen. Es ist das erste Mal, dass
ich mir das anschaue. Daneben ziehe ich an einer Parisienne und schaue
immer wieder zur Tür. Um halb zwölf werde ich gehen.