Christina Frosio

2011

Unten am Bach

von Christina Frosio

Manchmal, wenn die Tage länger werden und die Nächte heiss, zieht es mich zurück in diesen längst vergangenen Sommer, dann stehe ich wieder auf dem Felsen und springe hinein ins kalte Wasser, tauche tief und höre am Grund des Baches die Steine sirren – schöne, von der Strömung rundgeschliffene Kiesel. Und dann denke ich an Marie. Manchmal schäme ich mich und manchmal denke ich: Ich war doch erst fünfzehn, ein schmächtiger Junge.

Es war meine erste Zeit fern von zu Hause. Ich ging nicht in eine grosse Stadt, sondern zu meinem Grossvater hinauf in ein kleines Bergdorf. Mein Grossvater war Winzer und ich half ihm bei der Arbeit. Die meiste Zeit schnitt ich mit einer Sichel Gras oder schob die volle Schubkarre zum Grünhaufen am unteren Ende des Hangs. Um die Rebstöcke kümmerten sich andere. Erfahrene Männer, sagte Grossvater. Einer von ihnen war Carlo. Seinen Namen kannte ich erst seit der Geschichte mit der Schubkarre, aufgefallen war er mir aber schon am ersten Abend.
Meine Arbeit war eintönig. Oft lungerte ich beim Brunnen herum. Das Wasser war kalt und süss, die Sprüche der Männer derb. Am Brunnen rauchte ich meine erste Zigarette, hustete und fühlte mich flau im Magen und Carlo, in Shorts und mit nacktem Oberkörper, stemmte die Schubkarre hoch, hielt sie mit gestreckten Armen über dem Kopf. Drei junge Frauen mit Rucksäcken und bunten Tüchern im Haar fragten uns nach dem Weg, füllten ihre Feldflaschen, lachten und klatschten Carlo zu, als er die Schubkarre von hoch oben wieder zu Boden donnern liess. Seitdem stand sie schief und hatte beim Schieben einen Drall nach links.
Manchmal blieb ich beim Grünhaufen stehen und lauschte. Ich konnte den Bach rauschen hören, tief unten im Tal. Sehen konnte ich ihn nicht. Bäume verdeckten mir die Sicht.
Es war an einem Nachmittag. Die Sonne stand schräg am Himmel. Ich rannte über die Wiese hinab zum Waldrand. Die Blätter der Bäume glänzten. Es war sehr heiss an diesem Tag. Im Wald wurde es kühler.
Ich schlitterte den steilen Hang hinunter. Ich rannte immer schneller, stolperte über Wurzeln und hielt mich an Ästen und Baumstämmen fest. Erst als ich das Wasser durch die Zweige glitzern sah, wurde ich langsamer, ruhiger, blieb stehen.
Vor mir lagen drei Wasserbecken. Sie reihten sich dicht aneinander, unterbrochen durch grosse Steinbrocken, zwischen denen das Wasser hindurchsprudelte. Das mittlere Becken war so tief, dass ich darin nicht mehr stehen konnte. Die Steine am Ufer waren glatt, weiss und heiss. Das Tal war eng an dieser Stelle und trotzdem schien die Sonne bis ganz herunter. Schnell zog ich meine Kleider aus. Ich liess mich ins eiskalte Wasser gleiten, schwamm zwei, drei Züge, atmete hastig und watete ans Ufer. Dann legte ich mich auf die grosse Felsplatte. Ihre Wärme drang in meine Brust, breitete sich im ganzen Körper aus. Ich presste mich fester gegen den heissen Stein, wollte einen Abdruck hinterlassen.

Die drei Wasserbecken unten am Bach wurden mein Geheimnis.
Nach der Arbeit rannte ich den Hang hinunter und stellte mich auf die Felsplatte, blinzelte in die Sonne und wartete, bis alles verschwamm. Dann stemmte auch ich die Schubkarre hoch, stemmte sie mit gestreckten Armen gegen den blauen Himmel. Am anderen Ufer sah ich die Mädchen aus meiner Klasse, sah feuchte, blonde Locken, hörte erstauntes, helles Lachen.
„Allesamt meine Nixen“, sagte ich laut und antwortete so, fernab von allem, auf die immer wiederkehrende gleiche, spöttische Frage am Brunnen: „Fabio, irgendwelche Nixen unten am Bach?“
Im Wasser schrumpfte ich zusammen. Die Kälte nahm mir den Atem und auch alles andere.

Dann, eines Abends, war sie da. Sie sass am anderen Ufer auf dem flachen Stein, den geblümten Rock bis zu den Knien zurückgeschlagen, die nackten Füsse im Wasser. Ihre Gestalt schien mit dem Stein zu verschmelzen. Den Kopf hatte sie in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen, die Brille ins krause Haar zurückgeschoben. Der kleine Mund war angespannt. Später sah ich diesen Ausdruck oft in ihrem Gesicht. Es war, als würde sie lauschen. Doch damals sah ich vor allem ihre Fülle. Alles an ihr war rund und irgendwie zu kurz oder zu klein. Ich dachte an eine Puppe, eine mit Pausbacken, bunt bemalt und mit wirrem Haar. Ein grosser schwarzer Hund spielte im Wasser. An diesem Abend habe ich nicht gebadet.

Wenn ich kam, war sie schon da. Auf dem flachen Stein, am anderen Ufer. Ich legte mich in meinen Shorts auf die Felsplatte. Meine Spiele liess ich bleiben. Das Baden auch, in der ersten Zeit. Stattdessen blinzelte ich zu ihr hinüber, doch nur wenn ich wusste, dass sie mich nicht sehen konnte. Unter Wasser schillerte ihre Haut wie der Bauch eines Fisches.
Ich gewöhnte mich an sie. Es entstand ein Nebeneinander. Sie badete hinten, ich vorne. Wenn der Hund im Wasser war, badete ich nicht.
„Marie“, sagte sie. Es kam unerwartet. Ich lag auf der Felsplatte, sie stand mit dem Hund beim mittleren Becken, halb im Wasser. Jetzt aus der Nähe sah ich die dicken Brillengläser und dahinter ihre hellblauen, grossen Augen. Und die vielen Sommersprossen, überall. Ihr Badeanzug war altmodisch und hatte grosse Körbe für die Brüste.
„Ich heisse Marie“, wiederholte sie. Und dann: „Bist du einer der Jungs, die früher dort vom Felsen sprangen?“. Sie zeigte nach vorne auf eine grosse Felswand. Unten war Kies und Geröll. Ich sah sie verwirrt an. Ihre Stimme war viel tiefer, als ich gedacht hatte.
„Sie haben das Becken im letzten Jahr zugeschüttet“, sagte sie, „zu gefährlich, zu viel Abfall, was weiss ich.“
„Nein“, sagte ich. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. „Fabio“, fügte ich schliesslich hinzu.
Wenn der Hund badete, sass sie jetzt oft auf meiner Seite des Baches, etwas unterhalb der Felsplatte. Sie plauderte mit dem Hund, später auch mit mir. Über ihre Arbeit, als Küchenhilfe im Spital, unten in der Stadt. Und einmal sprach sie auch über das Leben, sagte, dass man selber mithelfen könne, sich gut und gesund zu fühlen, dass man die Wahl hätte, oft, nicht immer und nicht bei allem, dass wisse sie, doch oft, und ich fragte mich, was sie meinte. Ich hörte ihr zu und schaute sie an. Beim Sprechen bewegte sich ihr ganzes Gesicht.
Das kalte Wasser schien ihr nichts auszumachen. Sie badete länger als ich, setzte sich danach auf den grossen, flachen Stein. Und dann legte sich manchmal dieser lauschende Ausdruck auf ihr Gesicht. Ich wendete mich ab in diesen Momenten, rauchte und liess welke Blätter auf dem Wasser treiben.

Ich streifte durch die Tage, schnitt mit der Sichel Gras, sass auf dem Brunnenrand, die eine Hand im Wasser und starrte in die reglose Landschaft, die Luft flirrend von Hitze und Staub. Abends, plötzlich, zuckte es in meinen Armen und Beinen. Dann strauchelte ich über die Wiese, glitt den Abhang hinunter, sprang wieder von der Felsplatte, tauchte nach den runden Kieseln und gewöhnte mich an den Hund.
Es machte Spass. Ich wollte es mir lange nicht eingestehen, aber mit Marie machte es Spass. Es gefiel mir, nicht mehr allein hier unten am Bach zu sein und es gefiel mir, Marie zu beobachten. Sie hatte eine Art, sich zu bewegen, träge, etwas schwerfällig und doch ganz selbstverständlich, so als wäre sie eins mit sich und dem Bach, den Steinen. Etwas davon ging auf mich über. Ich fühlte mich sicherer, freier. Am Brunnen lachte ich lauter. Die Sprüche der Männer beflügelten mich.
Einmal fragte ich Marie, warum sie nicht schon früher hierher gekommen sei. „Der Sommer dauert schon eine ganze Weile“, sagte ich.
„Pino war verletzt. Ein offene Wunde“, antwortete sie.
Ich schaute sie verwundert an. Marie hatte einen Sohn? Von Kindern hatte sie bis jetzt noch nie gesprochen. Ich wusste nicht warum, aber es fühlte sich merkwürdig an. Irgendwie war mir das unangenehm.
„Mein Hund“, fügte sie hinzu, als sie meine Verwirrung sah. Ich lachte laut auf und tauchte weg. Wir badeten beide im mittleren, tiefen Becken. Als ich wieder auftauchte, streifte ich mit der Schulter ihre Brust. Sie stand plötzlich ganz nah bei mir. Ich sah ihr breites Gesicht, dachte, sogar an den Lippen hat sie Sommersprossen. Ich wollte sie berühren, diese Lippen und nicht nur mit den Fingern. Da traf mich eine Handvoll Wasser, mitten ins Gesicht. Maries Lachen, so viel heller als ihre Stimme. Ich tauchte unter, schwamm zum anderen Ufer, Gänsehaut am ganzen Körper. Sie hatte es gesehen. Dazu brauchte es keine Brille, das wusste ich. Später an diesem Abend hatte Marie die Idee mit dem gemeinsamen Picknick.

Das Picknick bestand aus vielen kleinen Plastikbehältern, gefüllt mit Speiseresten aus der Spitalküche. Bohnensalat und Maissalat, alles, was ich sonst nie ass. Ich brachte eine Sechserpackung Bier. Unter Grossvaters Küchenbank standen immer welche. Und Zigaretten. Marie hatte ein Tischtuch mitgebracht, bunt kariert und breitete darauf das Essen aus. Ich ass etwas Bohnensalat, Marie zuliebe und trank. Die Sonne ging unter. Es blieb angenehm warm. Ich redete mehr als sonst, erzählte sogar etwas von zu Hause und einmal streichelte ich den Hund. Sein Körper war hart, so gar nicht weich oder schwammig wie ich es erwartet hatte; das Fell struppig und feucht. Ich kenne keine Hunde, dachte ich, auch keine Katzen und plötzlich spürte ich ein Ziehen im Rücken. Ich sprang auf, zog das Hemd über den Kopf und schwankte gefährlich vorne an der Felsplatte. „Marie, ich geh baden“, rief ich und liess mich einfach fallen. Als ich auftauchte, war sie schon unten an der Felsplatte. Ich begann sofort zu schlottern, wollte lachen, witzig sein, doch meine Lippen gehorchten mir nicht. Mein Fuss rutschte weg, verklemmte sich zwischen den glitschigen Steinen am Ufer. Ich fiel auf die Knie, schürfte mir die Handflächen auf, fluchte und zerrte den Fuss frei. Schmerzen hatte ich keine, noch nicht, doch mir war übel. Erst da merkte ich, wie betrunken ich war.
Marie half mir aus dem Wasser. Sie trocknete mir die Schultern, das Haar und zog mir das Hemd über. Sie plauderte die ganze Zeit, leise, ruhig. Der Knöchel war jetzt geschwollen, seitlich. Es sah aus wie ein Tennisball.
„Komm, zieh über“, sagte Marie und hielt mir die Hose hin.
„Über die nassen Shorts“, dachte ich und sagte es. Meine Stimme klang viel zu hoch. Ich stotterte.
„Ich denke, ja“, antwortete Marie und legte mir das Badetuch in den Schoss. „Ich bringe dich nach Hause. Oben steht mein Auto.“
Auf der anderen Seite des Baches war die Strasse viel näher. Marie nahm den Hund an die Leine. Dann nahm sie die Badetasche hoch, packte mich fest um die Hüften und half mir über den Bach. Der Hund zog kräftig. Wir stolperten den Hang hinauf. Es war jetzt beinahe dunkel. Ich versuchte, nicht zu stöhnen und gerade zu gehen. Einmal blieb ich stehen, würgte und krümmte mich über trockenes Laub, doch nichts kam hoch. Fast zwei Liter Bier, dachte ich und dann dachte ich an Maries Auto. Ich konnte es mir nicht vorstellen.
Es war klein und voller Sachen. Kleider. Irgendwelche Plastiktüten. Hinten lag eine Decke für den Hund. Marie fegte meinen Sitz frei und half mir ins Auto. Ich sagte: „Lass das.“
Der Sicherheitsgurt klemmte. Ich schloss einfach die Augen. Der Hund rumorte hinten. Marie stieg ein, nahm meinen Gurt und schloss die Schnalle. Sie drückte mir eine Plastiktüte in die Hand. „Für alle Fälle“, sagte sie.
Dann fuhr sie los. Es holperte. Wir schwiegen beide. Ich wusste nicht wie ich sitzen sollte, wohin mit dem verletzten Fuss und bald wusste ich nicht mehr, wie lange wir schon fuhren. Die Strasse war kurvenreich und beiderseits gesäumt von Bäumen – schwarz und verzerrt im Scheinwerferlicht. Mein Magen krampfte sich erneut zusammen, es rauschte in meinen Ohren und plötzlich fühlte sich alles unwirklich an. Ich sah Hände am Lenkrad, kleine Finger mit rundgefeilten Nägeln und ein paar Augenblicke lang wusste ich nicht, wessen Hände ich sah. Mich jetzt nur nicht übergeben, dachte ich und gleichzeitig stellte ich mir einen Unfall vor, spürte Glasscherben im Gesicht.

Marie hielt mich um die Hüften, ich hatte meinen Arm um ihre Schulter gelegt. Wir stiegen die Stufen zu Grossvaters Haustür empor. Die Frage traf mich von hinten. Carlo stand im Halbdunkel an die Hauswand gelehnt und rauchte. Seine Stimme hallte in meinen Ohren, gelangweilt. „Fabio, ist das deine Nixe?“
Ich schaute zu ihm hinüber, dann zu Marie. Ich sah ihre dicken Brillengläser, ihre Augen nur unscharf, sah das wirre Haar und spürte den festen Körper an meiner Seite. Was macht sie hier, dachte ich, sie sollte nicht hier sein. Es ist falsch. Vollkommen falsch. Ich machte mich unsanft los und setzte den verletzten Fuss auf den Boden. Alles verschwamm.
„Nein, ich kenne sie nicht“, sagte ich und tastete nach der Haustür. „Sie hat mich nur hergebracht.“ Der Boden schwankte.
Im Wohnzimmer brach die Welt auseinander, wie in einem Kaleidoskop. Ich lehnte mich gegen die Wand. Die Worte drehten in meinem Kopf, kehrten immer wieder. Ich kenne sie nicht, nein, ich kenne sie nicht. Der Knöchel pulsierte. Der Schmerz zuckte durch meinen Körper bis hinauf unter die Schädeldecke. Und trotzdem wusste ich: es blieb mir noch Zeit. Ich könnte mich zum Fenster schleppen und Maries Namen schreien in die Nacht, noch könnte ich es tun. Gleichzeitig fühlte ich mich leer, fast erleichtert, als wäre alles schon längst Vergangenheit und hätte nichts mehr mit mir zu tun. Mit den Fingerkuppen strich ich über die grobe Maserung der Tapete, suchte nach dem Lichtschalter, liess es bleiben. Langsam rutschte ich mit dem Rücken der Wand entlang zu Boden.
Am nächsten Morgen regnete es. Für mich war es ein Zeichen: Der Sommer war zu Ende. Oder schien wie immer die Sonne und ich hatte mir nur gewünscht, es würde regnen. Ich weiss es nicht mehr. Ich weiss nicht, was Marie fühlte in dieser Nacht und werde es nie erfahren. So wie ich nie wissen werde, wonach sie lauschte, wenn sie wie hingegossen auf der flachen Steinplatte sass. Heute denke ich, sie hörte die Steine klingen, die rundgeschliffenen Kiesel unten im Bachbett, deren hell sirrenden Ton ich selber nur wahrnehmen konnte, wenn ich tief hinunter tauchte und das kalte Wasser mir die Brust zusammenzog.