Gerlinde Michel
2006
Antigorio
von Gerlinde Michel
Der Mann überholt den
Kastenwagen und schaltet in den vierten Gang. Das hier schnurgerade über den Talgrund laufende Asphaltband glänzt schwarz im Nieselregen, fetter Nebel klebt an den Hängen und franst bis in die Wiesen aus. Von allen
Bäumen und Telefondrähten tropft die Nässe und färbt die hölzernen
Pfosten der Weidzäune grau.
Weiter vorne stehen zwei Leute auf der linken Strassenseite,
bewegungslos, wie zwei kleine ausgestanzte Pappfiguren. Beim Näherfahren erkennt der Mann ein Paar, sie tragen Windjacken und grosse Rucksäcke
und sind jung, um die Dreissig, mit feuchten Haarkringeln über der
Stirne und verfrorenen Augen. Wie er an ihnen vorüberfährt, schnellt die Hand der jungen Frau in seine Richtung, ihr Daumen zeigt nach oben.
Der Mann zögert einen Sekundenbruchteil, misst die Situation mit einer
raschen Augenbewegung aus. Rechts hinter ihm fährt etwas langsamer der
Kastenwagen, die Strasse vor ihm ist leer und weitet sich nach links zu
einer Einmündung.
- Ich nehme die beiden mit, sagt er zu der Frau auf dem Nebensitz und
steigt auf die Bremse, noch bevor er ihre Antwort hört. Mit einer
brüsken Linkskurve lenkt er den Wagen in die Nebenstrasse.
- Ach ja, bei dem schrecklichen Wetter, sagt die Frau.
Der Wagen rutscht etwas auf dem losen Schottergestein, bevor er zum
Stehen kommt. Der Mann öffnet die Autotüre und steigt aus. Er geht nach
hinten und hebt den Deckel zum Kofferraum, schiebt ein Paar
Gummistiefel, einen gelben Plastiksack und eine zusammengefaltete
Wolldecke zur Seite. Das junge Paar hat sich in Bewegung gesetzt, die
Frau läuft voraus und lächelt, auf ihrem Rücken tanzt der grosse blaue
Rucksack. Ihr Begleiter folgte etwas langsamer. Jetzt steht die Frau
neben dem offenen Heck des Wagens, sie keucht ein wenig, sieht den
Fahrer an und sagt, molto gentile, grazie mille. Nebelfeuchte
dunkelbraune Haare ringeln sich auf ihren Wangen.
Der Mann weist mit der Hand auf den Kofferraum.
- Vado a Domodossola, vabene?
Die jungen Leute nicken, sie schälen die schweren Säcke vom Rücken und
legen sie in die Ladebucht. Der Mann wirft den Deckel zu. Beim
Vorbeigehen öffnet er die hintere Türe und schwingt sich trotz seiner
Körperfülle gewandt zurück in den Fahrersitz. Er zieht die Türe ins
Schloss und startet den Motor.
Das Paar ist hinten eingestiegen und streift durchnässte Windjacken von
Schultern und Armen. Der junge Mann beugt sich zu der Frau neben dem
Fahrer und sagt Buongiorno, und sie dreht sich lächelnd leicht in seine
Richtung und erwidert den Gruss. Dann sagt sie etwas zu dem Mann am
Steuer. Er hat nach dem Einmünden auf die Hauptstrasse stark
beschleunigt und holt nach wenigen Minuten den Transporter wieder ein.
Andrea zieht den Sicherheitsgurt über ihren blauen Pullover, das Schloss schnappt ein. Ins Polster des Rücksitzes gelehnt reibt sie ihre klammen Finger, sie sind weiss und gefühllos vor nasser Kälte.
Das Paar auf den Vordersitzen ist etwa Mitte Fünfzig. Die Frau trägt
ihre aschblonden Haare locker hochgesteckt, ein paar Strähnen kräuseln
sich auf dem Kragen ihrer dunkelgrünen Jacke, von den Ohrläppchen
baumeln altmodische, in Gold gefasste Perlenohrringe. Sie spricht fast
ununterbrochen mit dem Mann. Ihr Italienisch ist so schnell, dass Andrea durch das tiefe Brummen des Motors hindurch nichts verstehen kann. Die
Hände der Frau tanzen beim Sprechen, sie malen Figuren und Kreise vor
ihrem Gesicht und die Ohrperlen hüpfen auf und ab wie junge Zicklein.
Einmal dreht sie sich nach hinten. Andrea erschrickt, denn die Frau
sieht nur von hinten und im Profil hübsch und elegant aus. Sie hat
fröhliche grau-blaue Augen und eine schmale Nase, aber ihre leicht
schiefen und weit auseinanderstehenden Zähne geben ihrem Gesicht einen
schrägen Ausdruck, wie wenn es in der nächsten Sekunde in zwei Teile
auseinander fallen könnte.
- Troppo brutto per viaggiare a piedi, come? sagt sie und lacht.
Andrea nickt und legt sich einen Satz zurecht, aber Sebastian kommt ihr
zuvor. Andrea presst sich in ihre Ecke. Sein Italienisch ist quälend,
unbelehrbar sagt Sebastian la sole und il montagno und gebraucht einzig
die Grundformen. Andreas Hände zucken, am liebsten würde sie sich die
Ohren zuhalten, so schmerzt es. Endlich schaut die Frau wieder nach
vorne und Sebastian schweigt. Die Frau redet wieder mit dem Mann, er
sagt wenig und blickt sie manchmal von der Seite an. Seine Stimme ist
tief und am unteren Ende ein kleines bisschen rauh wie eine Katzenzunge.
Andrea schaut an Rücken und Nacken des Mannes vorbei nach draussen. Dort gleitet die nebelverhangene Landschaft vorbei, Bäume und Waldstücke in
verdunkelten Herbstfarben, mit Moos und Farnen überwachsene Felsblöcke,
die vor Jahrhunderten aus den Steilhängen in den Talgrund gekollert sind und sich noch immer wie eckige Fremdkörper in die Wiesen ducken,
manchmal ein alleinstehendes, mit flachen Steinplatten gedecktes Haus am Strassenrand.
Der Mann fährt sehr schnell. Er nimmt auch in den wenigen Ortschaften
kaum Geschwindigkeit weg. Ein paar Mal überholen sie auf der engen
Strasse schwere, mit Granitblöcken beladene Lastwagen, die langsam
talabwärts lärmen. Beim ersten Überholmanöver hält Andrea, die Hand um
den Türgriff geklammert, den Atem an. Später entspannt sie sich. Der
Mann am Steuer lenkt seinen Wagen mit traumwandlerischer Sicherheit. Er
überholt und kreuzt die dahinkriechenden Schwertransporter ohne zu
zögern an den schmalsten Stellen und kurvt geschmeidig wie ein
Schlittschuhläufer durch die Haarnadelwindungen bei der Talsperre. Unter seinem weissen Wollpullover zeichnen sich kräftige Schultern ab, seine
behaarten Hände hängen entspannt über dem Steuerrad.
Andrea wirft einen Blick zu Sebastian. Sebastian drückt sich bleich und
steif in seine Ecke und blickt starr geradeaus, schütteres Blondhaar vor den Augen. Zwischen ihnen dampfen die durchnässten Jacken. Sebastian
spürt Andreas Blick und dreht den Kopf zu ihr.
- Unglaublich, wie der Kerl fährt, vollkommen verrückt. Eigentlich
müsste man ihn anzeigen. Ich wette, du bist froh, wenn wir wieder
aussteigen können.
Sebastian spricht leise und schaut gleich wieder nach vorne, die magere
Hand auf dem Türgriff weiss vor Anstrengung. Die andere Hand krampft
sich um seine Knie. Andrea sagt nichts.
Um dem Regen zu entgehen hat Sebastian beschlossen, weiter in den Süden
zu fahren und dort zu wandern, wo das Wetter besser zu sein verspricht.
Andrea hat nichts dagegen eingewendet. Das Planen ist ohnehin Sebastians Sache. Er überlässt nie etwas dem Zufall. Sebastian kennt jeden
Berggipfel und jede Schlucht mit Namen, er sagt jede Wegbiegung und
Abfahrtszeit aufs genauste voraus. Nur Regen und Sonnenschein hat er
nicht unter seiner Kontrolle.
Beim langen Abstieg vom Joch zum Talboden stritten sie deswegen. Im
Nebelwald zeigte Andrea Sebastian ein Spinnennetz zwischen den Blättern, ein zartes Gebilde aus silbernen Perlenschnüren, die leise im Luftzug
zitterten. Doch Sebastian blickte kaum hin, er schimpfte unentwegt über
die Nässe und über die entgangene Aussicht auf die Viertausender. Bis
ihn Andrea anfauchte, er solle doch zu Hause bleiben, wenn ihn das
bisschen Nebel so aus der Fassung bringe. Der Ärger machte sie
unaufmerksam, sie glitt auf einer rutschigen Baumwurzel aus und schlug
mit dem Schienbein hart auf einen Stein. Einen Augenblick lang wurde ihr schwarz vor den Augen. Durch das Rauschen in den Ohren schnitt
Sebastians vorwurfsvolle Stimme. Kannst du eigentlich nicht aufpassen,
schrie er und lief weiter. Das Brennen der Wut übertönte den Schmerz im
Bein, als Andrea sich hochstemmte und weiterlief.
Sie sprachen nicht mehr darüber.
Von den Steilhängen beidseits der Strasse stechen die Krane der
Granitbrüche wie Metallfinger in den Nebel. Der Wagen bremst federnd ab, vor ihnen kriecht ein Lastwagen durch die engen Kurven, die Ladefläche
voller Felsquader. Der Granit aus dem Antigorio ist von besonderer Härte und Schönheit. Unscheinbar grau stürzt er beim Abbau aus den Wänden,
und erst der Diamantschliff bringt die eingeschlossenen Quarzkristalle
zum Leuchten, so dass sie aussehen wie helle Silberfunken auf
tiefschwarzem Grund. Vielleicht besitzt der Mann einen Steinbruch, denkt Andrea. Er hebt manchmal die Hand zum Grüssen, wenn sie einen Laster
kreuzen.
Allmählich weitet sich das enge Tal. Der Nebel hat sich gehoben und
verhüllt einzig noch die Bergspitzen, das vorher trübe Licht ist einer
Ahnung von Nachmittagssonne gewichen.
Die Frau spricht in ihr Mobiltelefon. Die Ohrringe tanzen.
- Vabene, Chiara, ci siamo verso le sei, hört Andrea und später, ciaò, cara.
Die Frau wendet sich zu dem Mann, sie lächelt, unsichtbare Fäden weben hin und her.
Vielleicht hat sie mit ihrer Tochter telefoniert, denkt Andrea. Sie
versucht sich vorzustellen, wie eine Tochter dieses Mannes und dieser
Frau aussehen könnte, auch wenn sie nicht wirklich weiss, ob die beiden
ein Ehepaar sind. Der Mann trägt keinen Ring, der Frau stecken mehrere
Goldringe an den Händen. Vielleicht hätte die Tochter dunkelblonde und
leicht gewellte Haare wie die Frau oder die schwarzen geraden Haare des
Mannes, ohne seine silbergrauen Fäden, denn sie ist noch jung, achtzehn
oder zwanzig Jahre alt. Vielleicht hat Chiara auch einen Bruder, zwei
Jahre älter, stark und muskulös wie sein Vater, männlich. Sebastian will keine Kinder. Dies hat er schon gewusst, als Andrea ihn kennenlernte,
und jetzt, fünf Jahre später, hat sich nichts daran geändert. Kinder
wollen immer etwas von dir, sie schränken dich ein, sagte Sebastian.
Andrea ist sich nicht sicher, ob sie ein Kind will. Ein paar ihrer
Freundinnen haben nach Dreissig, manche dringend, plötzlich ein Kind
gewollt. Sie denkt manchmal darüber nach. Aber zwischen ihr und
Sebastian ist es kein Thema mehr, seit er sich erklärt hat.
Der Mann dreht an den Knöpfen der Musikanlage, sie entlässt einen alten
Song aus den Achtzigerjahren. Andrea erkennt die Melodie aus ihren
Kindertagen, die längst zurückgelassene Musik ihrer Eltern. Sebastian
saugt hörbar Luft ein, aber Andrea denkt, solche Musik passt zu diesem
Paar, zu den altmodischen Perlen der Frau, den erfahrenen Händen des
Mannes. Sie passt zum Duft nach Leder und Lavendel, Schweiss und
feuchtem Haar, der um die vier Menschen streicht. Im Wageninnern ist es
warm wie in einem duftenden Bad, draussen ziehen Hügel und Dörfer als
lautloser Stummfilm vorüber. Der Mann lenkt den Wagen kraftvoll durch
enge Kurven, bremst weich ab, wenn nach einer Biegung ein schleppendes
Gefährt auftaucht und beschleunigt mit tiefem Dröhnen auf den geraden
Strassenstücken. Andreas Körper, trunken von der Musik und der schnellen Fahrt, schwingt im Rhythmus der Bewegungen von einer Seite zur anderen.
Nie hat sie weniger Angst verspürt.
Wenn sie den Kopf leicht nach rechts bewegt, kann sie das Gesicht des
Mannes im Rückspiegel betrachten. Er hat dunkle, tief liegende Augen,
darüber sträuben sich buschige Augenbrauen. Er trägt die Haare kurz
geschnitten und seitlich aus der Stirne gebürstet, Kinn und Wangen sind
glatt rasiert, grosse Ohren stehen leicht vom runden Schädel ab. Sein
Gesicht erinnert Andrea an ein gut gepolstertes Sofa, weich und
einladend für eine Berührung, so wie der etwas grosse und für einen Mann erstaunlich volle Mund. Wenn er beim Sprechen lächelt, kräuseln sich
seine Mundwinkel nach oben wie bei den pausbäckigen Putti auf den
Gemälden italienischer Meister. Einmal treffen sich ihre Blicke im
schmalen Spiegelglas, nur wenig länger als bei einem zufälligen
Aufeinandertreffen zweier Augenpaare im Stadtgewühl, und halten etwas
fest. In den Sekunden danach scheint es Andrea, als müsse ihr Herz Atem
schöpfen, bevor es weiterschlagen kann. Sie streift die Ärmel ihres
Pullovers hoch und starrt auf den kräftigen Nacken des Mannes. Ihre
Hände brennen, sie schiebt sie hart zwischen die aneinandergepressten
Schenkel.
Dort vorne sieht man Domodossola, sagte Sebastian in ihr Schweigen, es
kann höchstens noch zehn Minuten dauern, zum Glück. Ein Wunder, dass der Typ keinen Unfall gebaut hat.
Andrea hört kaum hin, weisses Rauschen singt in ihren Ohren.
Sebastian zerrt seinen Rucksack aus dem geöffneten Kofferraum, hinter
dem Wagen hupt ungeduldig ein Bus. Andrea tritt zur Seite und will sich
nach ihrem Gepäck bücken, da hat der Mann den Rucksack schon hochgehoben und hält ihn Andrea entgegen. Sie dreht sich um, streift die Tragriemen über und spürt einen Augenblick seine Hände an ihren Schultern, dann
sieht sie ihn an. Der Mann steht jetzt nahe vor ihr, schwer und einen
Kopf grösser, seine schwarzen Augen hart in ihren. Er wendet sich ab und wirft mit einer kurzen bestimmten Bewegung den Deckel des Gepäckraums
zu.
- Buon viaggio, sagt er und geht zur Fahrertür. Es klingt wie ein Befehl.
Sebastian studiert die Fahrpläne in der Bahnhofshalle.
- In sechsunddreissig Minuten fährt ein Zug nach Locarno, sagt er und
vergleicht die Zeit auf seiner Armbanduhr mit der Bahnhofsuhr, das
heisst, wir haben genug Zeit, um etwas zu trinken. Ich habe Durst.
Er zeigt auf einen Durchgang, über dem eine rot pulsierende Leuchtschrift für das Bahnhofsrestaurant wirbt.
- Ich muss zuerst aufs Klo, sagt Andrea und schaut sich in der Halle um. Ein Schild weist die Richtung zu einem Gang auf der anderen
Hallenseite.
- Also, ich gehe schon voraus und bestelle etwas.
Sebastian verschwindet im Durchgang, Andrea läuft quer durch die mit
Menschen gefüllte Halle. Es ist Feierabend, von der Strasse drängen
sich lachende junge Mädchen und Burschen mit Schulmappen und Rucksäcken
herein, Frauen mit Einkaufstaschen und Kindern an der Hand gehen vorbei, alle reden, irgendwo ruft eine schrille Frauenstimme, Giorgio, dove
sei? Das Stimmengewirr saust in Andreas Ohren, sie schwitzt.
Bei der Treppe zur Unterführung fällt ihr Blick auf einen Bildschirm,
der über den Köpfen der Leute schwebt. Partenze, steht zuoberst, und
gleich darunter Briga, Berna, Basilea, und die Abfahrtszeit. In drei
Minuten. Gleis zwei. Ohne etwas zu denken ändert Andrea die Richtung und bewegt sich zur obersten Treppenstufe. Ein paar Wanderer in Bergschuhen und mit Rucksäcken rennen an ihr vorbei die Stufen hinunter, ein
Schüler stösst von hinten in ihren Rucksack und entschuldigt sich.
Automatisch steigt Andrea eine Stufe nach der anderen hinunter, zuerst
zögernd, dann schneller. Männer und Frauen in Jacken und Pullovern, mit
Aktenmappen in den Händen und umgehängten Taschen quellen aus der
Unterführung gegen die Treppe.
Andrea beginnt zu rennen, sie schiebt sich an den entgegendrängenden
Körpern vorbei in den Gang unter den Bahngeleisen. Gleis zwei. Das muss
die erste Treppe hoch sein. Sie erreicht den Aufgang, fliegt trotz dem
schweren Rucksack die Stufen hoch, steht schwer atmend auf dem fast
menschenleeren Bahnsteig. Rechts von ihr wartet der Zug. Ein Schaffner
in blauer Uniform dreht sich auf dem Absatz, er pfeift und geht rasch
auf die offene Tür des nächststehenden Eisenbahnwagens zu. Jetzt sieht
er Andrea, er lacht und sagt, während seine Hand beschwörend wie die
eines Tänzers oder Zauberers durch die Luft weht, presto, presto,
Signora, und tritt etwas zur Seite, so dass sie noch vor ihm den Waggon
besteigen kann.