Ivana Radmilovic

2008

Der Mann im Zug.

von Ivana Radmilovic

Als ich im Speisewagen sass und in meinen Kaffee starrte, blendete mich in einem Moment seitwärts die untergehende Sonne, die hinter dichten Wäldern hervorbrach; und als ich meinen Kopf abwandte, da mich das Licht schmerzte und etwas verlegen machte, fiel mir der Mann auf, der in einiger Entfernung von mir sass und mich beobachtete. Sein Blick war mir unangenehm, so senkte ich den meinen, um meine Finger und den an den Rändern abgesplitterten Lack auf meinen Nägeln zu betrachten. Ich hob den Kopf erst wieder, als ich bemerkte, dass er vor mir stand.
Eigentlich erwartete ich eine jener Fragen, die im Alltag so absehbar sind, doch er setzte sich einfach zu mir an den Tisch und schwieg. Als ich mich gerade dazu entschieden hatte, Musik zu hören, um diese neue Stille zu stören und zu meinen Hörern greifen wollte, fing er mit sonorer Stimme zu sprechen an. Er blickte mir nicht in die Augen, und sein offenkundiges Desinteresse an meiner Person beruhigte mich rasch.
Ich dachte noch flüchtig, bevor ich mich in seine Worte vertiefte, er würde mir von einer verlorenen Liebe erzählen oder von der Einsamkeit, doch er begann von seinem Vater zu sprechen, den er vorher hatte besuchen wollen, in seinem Heimatdorf, aus dem er vor einigen Jahren weggezogen war. Sein Vater hatte jahrelang Musik im Dorf unterrichtet und seine Geduld an der Talentlosigkeit plumper Kinder aufgezehrt – er war ein eher schweigsamer Mensch und ging oft stundenlang spazieren.
Während der Mann erzählte, betrachtete ich sein Gesicht mit den scharf geschnittenen Zügen, seinen sprechenden Mund, seine Finger, die ein Stück Papier immer wieder von Neuem auseinander- und zusammenfalteten. Ich fühlte mich leicht betäubt in der Gegenwart dieses Fremden, als würde jemand sachte über meinen Rücken streichen. Seine Stimme umhüllte mich und gesellte sich zu den Geräuschen, die der Zug von sich gab.
Nach einem Augenblick des Schweigens sagte er, dass sich das Verhalten seines Vaters, nachdem dieser in Rente gegangen war, beinahe unmerklich verändert hatte. Obschon dieser zwar nach wie vor still und zurückgezogen lebte, neigte er nun von Zeit zu Zeit zu seltsamen sowie kurzlebigen Wutausbrüchen. Da das Verhältnis zu seinem Vater nie wirklich offen gewesen war, und der Zorn so rasch zu verrauchen schien, wie er entflammte, fügte es sich, dass diese väterlichen Gewitter meist unkommentiert vorüberzogen. Sein Vater und er waren sich in diesem Punkt sehr ähnlich, es fiel ihnen beiden schwer, über Dinge zu reden, die sich ausserhalb des Alltagsbereiches bewegten. Zudem erklärte er sich die seltsamen Stimmungen seines Vaters durch den unerwarteten Tod seiner Mutter vor einigen Jahren. Denn die Einsamkeit lasse die Menschen ja bisweilen etwas kauzig werden.
Er entschied sich daher vor einigen Monaten, die Anzahl seiner Besuche zu erhöhen, auch wenn ihm die lange Fahrt aufs Land zuwider war und das Dorf in ihm unangenehme Erinnerungen auslöste. Es ergab im Laufe der Zeit, dass er jeweils samstagnachmittags zum Vater hinausfuhr, dort einige Stunden mit ihm verbrachte und am Abend wieder in die Stadt zurückkehrte. Doch dieses Mal hatte er bereits am Freitag in der Bahn Richtung Heimatdorf gesessen, da er mit Freunden einen Ausflug über das Wochenende plante. Er hatte seinem Vater vorher nicht Bescheid gegeben, es war nicht das erste Mal, dass er unangemeldet bei ihm auftauchte. Natürlich sei er auch im Besitz eines Zweitschlüssels, er war zu Hause ja immer willkommen gewesen.
Ich trank den letzten Schluck meines Kaffees und schaute aus dem Fenster auf die fliehende Landschaft. Die Sonne entzog sich meinem Blick schon seit einer geraumen Weile und es wurde allmählich dunkel. Er räusperte sich und ich schaute ihn wieder an.
Als er dann zu Hause angekommen war und den Geruch seiner abgestandenen Kindheit eingeatmet hatte, hielt er kurz inne und horchte, ob ihm nicht etwaige Geräusche den Aufenthaltsort seines Vaters verraten könnten. Vielleicht machte dieser gerade einen seiner einsamen Spaziergänge, aber das Dorf und seine umliegende Gegend waren überschaubar und die Wege nicht zahlreich. In diesem Fall machte er sich jeweils auf die Suche nach seinem Vater und schloss sich ihm eine Weile an. Er mochte es, neben ihm herzugehen. Dieser sprach zwar nicht viel auf seinen Spaziergängen, aber wenn, dann sagte er gute Dinge – sein Vater sei im Grunde ein kluger Mensch.
Als er nun da im Gang gestanden hatte und nur Stille um ihn war, ging er in die Küche, um Wasser zu trinken, bevor er sich draussen auf die Suche machen wollte. Auf dem Weg zur Küche hörte er ein Geräusch aus dem Keller heraufsteigen. Er öffnete die Türe und leise Jazzmusik kam ihm von unten entgegen sowie ein anderer Laut, der ihn innehalten liess. Es klang wie ein Murmeln, hin und wieder durchbrochen von einem unterdrückten Keuchen. Für einen Augenblick überlegte er sich, einfach umzudrehen, das Haus zu verlassen und wieder zurück in die Stadt zu fahren. Aber es riss ihn abwärts zu dieser Geräuschkulisse, und er tastete sich langsam die Stufen entlang. Mitten in der Bewegung blieb er stehen, als er in einer Ecke des Kellers eine Silhouette erkannte. Der Raum war schummrig und muffig und ein seltsam beissender Geruch drang ihm in die Nase. Er sah seinen Vater, mit dem Rücken gegen ihn gewandt auf dem Boden knien, nur bekleidet mit einem Unterhemd und einer weissen langen Unterhose, die ausgetragen schien. Der Nacken seines Vaters war gebeugt und der Oberkörper, der sich langsam zu einem gleichförmigen Gemurmel hin- und herbewegte, war hager und bleich. Er betrachtete den knienden alten Mann fassungslos, wobei dieser in einem plötzlichen Impuls ruckartig seinen bis anhin gesenkten Kopf in die Höhe warf, als wäre er ein wildes Tier, das soeben Witterung aufgenommen hatte. So hielt er eine Weile zitternd inne und breitete dann langsam seine Arme aus. In diesem Moment wurde auch das Messer in des Vaters ausgestreckter Hand sichtbar.
Der Mann brach seine Rede ab und blickte mich unerwartet lange an und fuhr dann fort: dass ihn insbesondere die Verwahrlosung seines Vaters erschüttert hatte, da dieser sonst stets grossen Wert auf ein makelloses Äusseres legte. Daher hatte er auch für den Bruchteil einer Sekunde gedacht, es könnte sich nur um eine Verwechslung handeln beziehungsweise der im Keller seines Vaters kauernde Mann wäre ein Fremder. Doch das schütter gewordene Haar und auch die steil herabfallenden knochigen Schultern waren unverkennbar.
Er war reglos dagestanden und hatte gebannt beobachtet, wie das Messer aus der einen Hand in die andere wanderte, wobei er erst allmählich begriff, dass sich sein Vater Schnitte auf der Innenseite beider seiner Arme zufügen musste, denn dunkles Blut tropfte saftig und dickflüssig auf den Kellerboden, der bereits zahlreiche dunkle Verfärbungen aufzeigte. Während dieses Rituals erstarb das Gemurmel nicht, und er versuchte sich zu erinnern, ob er mit seinem Vater jemals über Glauben und Religion gesprochen hatte. Er suchte rasch mit seinen Augen den Keller nach religiösen Symbolen ab, doch er sah nur Vaters alte Schallplatten, die sich im breit angelegten Gestell bis unter die Decke stapelten. Obwohl das Murmeln von Zeit zu Zeit anschwoll, konnte er keine einzelnen Worte ergründen, es schien fast, als würde sein Vater in einer anderen Sprache sprechen, was jedoch unwahrscheinlich war, denn dieser sprach ausser dem Schweizerdeutschen nur noch ein harziges Hochdeutsch und ein stockendes Italienisch, das er sich auf seinen vereinzelten Ausflügen nach Umbrien angeeignet hatte.
Es ist unglaublich, sprach der Mann – und ein etwas bemühtes Lächeln brachte sein ganzes Gesicht in eine komische Schieflage – was einem so durch den Kopf geht, wenn man etwas sieht, das über das eigene Erfassungsvermögen hinausgeht: Als ich meinen Vater vor mir knien sah, da überkam mich ein so heftiges Gefühl der Verzweiflung und fast im selben Augenblick verliess mich der Wunsch zu verstehen, weshalb mein Vater dies tat. Und als er dann plötzlich nach vorne kippte, eine Zeitlang reglos da lag und dann wimmernd die Knie mit seinen weissen und schmächtigen Armen umfasste – da spürte ich nur Leere in mir. Ich betrachtete einige Augenblicke lang seinen zuckenden und verwelkten Leib und verliess den Keller und dann das Haus, in dem meine Kindheit einst war und nun verloren schien, ohne einen Laut von mir zu geben. Ich steuerte geradewegs auf den Bahnhof zu und versuchte, an nichts zu denken, doch Angst befiel und lähmte mich, noch bevor ich in den Zug steigen konnte.
Ich hatte ihn die letzten Minuten unaufhörlich angesehen und jedes seiner Worte drang in mich. Das Maskenhafte an seinen Zügen hatte sich verflüchtigt und seine Augen schienen dunkler zu sein als zuvor. Mir kam der Gedanke, dass er eine Erwiderung von mir erwarten könnte und räusperte mich. Ich hatte lange Zeit mit niemandem gesprochen und hob an, doch meine Stimme erstarb nach einigen heiseren Worten. Das erste Mal, seit er sprach, sah er mich an, als würde er mich wirklich sehen. Langsam reckte er sein Kinn etwas höher, was ihm etwas Bedrohliches anhaften liess und seine Augen wirkten nun beinahe schwarz, wie zwei grobkantige Kohlenstücke. Die Stimmung hatte sich verändert und mir war kalt. Ich wusste nicht, weshalb ich überhaupt reagieren wollte, wahrscheinlich nur, um irgendetwas zu sagen – einem Fremden, in einem Zug, der nirgendwohin zu fahren schien. Als ich ihn wieder anblickte, sah ich erstaunt, dass er lächelte.
Das Gesicht des Mannes hatte wieder etwas Steinernes, als er weitersprach: Ich konnte nicht in diesen Zug steigen, alles sträubte sich in mir, einfach so wegzufahren. Von der Bahnhofshalle aus rief ich meinen Vater an und liess lange klingeln. Seine Stimme klang müde und wir sprachen nur kurz, wobei er wortkarg wie immer war, und ich fragte ihn, wie es ihm gehe. Der Vater stockte unmerklich, bevor er antwortete: ganz gut – und diese kleine Pause vor seiner Antwort machte mir bewusst, dass ich ihn noch nie nach seinem Befinden gefragt hatte - nicht so, nicht wirklich. Ich erkannte, dass es gar keine Rolle spielen würde, ob ich was sagte, denn plötzlich sah ich Vaters Traurigkeit in ihrem ganzen Ausmass, spürte sie in mir und fühlte, wie sie sich mit meiner verband. Nun begann sich das Bild meines Vaters in meinem Kopf zu verändern, es krümmte sich langsam, wie erhitztes Plastik – und liess einer unglaublichen Erleichterung Raum. Ich atmete tief ein, um nach einem platzenden Auflachen wieder die ganze Luft rauszulassen – ich fühlte mich beschwingt und frei. Mein Vater schwieg weiterhin und bevor ich auflegte, sagte ich ihm, dass ich bald wieder zu Besuch kommen würde.
Er schaute mich lange an und teilte mir dann mit, dass er jetzt aussteigen müsse. Ich konnte nichts sagen und sah aus dem Fenster, das aufgrund des abendlichen Dunkels, nur ein verzerrtes Spiegelbild für mich bereithielt. Er stand auf und schüttelte sich die Papierfetzchen von der Hose. Bevor er sich umdrehte und den Speisewagen verliess, schien er kurz zu zögern, hob dann langsam seine Hand – einem Winken gleich – nickte leicht und ging.