Katja Fusek

2005

VERWÄHLT

von Katja Fusek

Heute wäre sein Geburtstag. Wieder haben ihm die Kinder Bilder gemalt und vor das Haus auf die Steinplatten gelegt. Als ich die Tür leise öffne und mich in den Vorgarten schleiche, um die Zeichnungen einzusammeln, klingelt in unserer Wohnung das Telefon. Ich greife nach den bunten Papierbögen und achte nicht darauf, dass ich die Ecken verbiege, denn die Zeichnungen wird der Vater meiner Kinder ohnehin nicht sehen, sie werden auf meinem Schrankboden landen wie die anderen Bilder auch, wie überhaupt alles, was für mich unansehbar und unaussprechbar bleibt.

Ich nehme den Hörer ab und ein paar Sekunden lang hoffe ich sinnlos, dass sich Davids Stimme meldet, auf die ich seit drei Jahren immer noch warte. Am anderen Ende der Leitung fragt ein Mann: "Christine? Bist du es?"
"Ja", sage ich ernüchtert und falle wieder zurück in die Wohnung und in den Dezemberabend hinein, an dem David seinen Geburtstag mit uns gefeiert hätte. Die näselnde Stimme am Telefon kenne ich nicht.
"Du hast jetzt einen anderen Familiennamen", meint der Mann.
"Nein", sage ich und setze mich auf einen Stuhl am Esstisch, die Zeichnungen meiner Kinder im Schoss.
"Als wir zusammen waren, hast du noch Schneider geheissen."
"Schneider heissen viele."
"Aber du bist es doch, Christine, nicht wahr? Eine Bekannte hat mir deine Telefonnummer gegeben. Deine Stimme tönt aber nicht mehr ganz gleich."
"Es hat sich vieles in meinem Leben geändert, vielleicht auch meine Stimme... Wer sind Sie überhaupt?", frage ich.
"Werner. Ich bin doch Werner. Erkennst du mich nicht?"

Auf dem Tisch leuchtet die Butter. Sie ist weich, zerfliesst an den Ecken und ist von roten Marmeladeschlieren bedeckt. Putzt das Messer zuerst am Brot ab, Kinder, bevor ihr die Butter schneidet. Ich will keine Marmelade an der Butter, das ekelt mich an. Hört ihr mir denn überhaupt zu, wenn ich mit euch rede! Mein Blick bohrt sich in die unappetitlich gewordene Butter und ich weiss, dass ich keinen Werner kenne, nie hatte es einen Werner in meinem Leben gegeben, nicht einmal im Kindergarten. Doch wenn ich diese Erkenntnis dem fremden Mann jetzt mitteile, dann wird er den Hörer auflegen und ich werde aufstehen müssen und die Marmelade von der Butter wegkratzen, diese in den Kühlschrank versorgen, die Teller und Tassen wegräumen und spülen, die Kakaopfützen von der Tischplatte wischen. Und das Telefon wird heute Abend stumm bleiben. Kein Mann wird mich mit meinem Voramen ansprechen. Darum sage ich: "Ja, jetzt erkenne ich dich, Werner - entschuldige."
"Du musst dich nicht entschuldigen, Christine. Es ist jetzt fünfzehn Jahre her. Genau fünfzehn Jahre. Deshalb habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und dich angerufen."
"Warum den ganzen Mut?"
"Das fragst gerade du, Christine, nachdem, was vorgefallen ist?"
"Warum rufst du an?", frage ich. "Möchtest du mir etwas erklären?"
"Ja", sagt der fremde Werner erleichtert. "Ich habe gewusst, dass du mich verstehen würdest. Du warst immer so grosszügig - das habe ich an dir geschätzt, weißt du?"
Ich nicke und lächle.

Das Brot ist halb aufgegessen, es liegt aufgeschnitten auf dem Holzbrett und trocknet an. Wenn ich es nicht versorgen würde, stünde das Brot am nächsten Morgen noch an der gleichen Stelle, nur ein bisschen trockener und ungeniessbarer. Es würde dort Tage stehen und langsam verschimmeln und es gab Zeiten, da hatte ich mir gewünscht, das Brot auf dem Tisch liegen lassen zu dürfen, selbst liegen zu bleiben und schlafen und vergessen, auch die Kinder, die vor allem.

"Nichts war so schlimm wie die letzten drei Jahre", sage ich leise dem Mann am Telefon. "Deshalb ist es gut, dass du anrufst."
"Auch mir ging es schlecht in der letzten Zeit", meint Werner. "Deshalb möchte ich reinen Tisch machen. Klären, abschliessen - sicher verstehst du mich."
"Sicher", wiederhole ich enttäuscht.

Hätte Werner mich gefragt, was denn so schlimm gewesen sei an den letzten Jahren, hätte ich ihm vielleicht erzählt, dass ich seit drei Jahren nicht aufgehört habe, auf der linken Seite unseres breiten Betts zu schlafen, auf meiner Seite. Denn es quält mich die Vorstellung, dass, wenn ich die ganze Fläche für mich einnähme, definitiv kein Platz für David neben mir bliebe. Jede Nacht wache ich auf und stelle mit Schrecken fest, dass ich diagonal auf dem Bett liege, den Kopf auf der linken Seite, die Füsse auf der rechten, dort, wo David geschlafen hat. Dann rutsche ich auf meine Seite, mache mich ganz schmal und klein und der Platz neben mir ist von meinem Körper noch warm und ich lege meine Hand auf die trügerische Stelle und bilde mir ein, dass David eben erst aufgestanden ist und gleich wieder zurückkommt. Auch hätte ich dem fremden Werner von den Kinderzeichnungen erzählt und die Worte wären aus mir herausgebrochen und hätten einen Teil des Unaussprechbaren, das ich hinter meiner Schranktür verschlossen halte, mitteilbar gemacht. Doch der Mann am Telefon stellt keine Fragen, er spricht in Sätzen mit einem Punkt am Schluss.

"Christine! Bist du noch da? Du hörst mir nicht mehr zu."
"Ja... nein. Entschuldige."
"Ich habe viel über uns nachgedacht", meint Werner.
"Über uns?"
"Ja. Ich habe nicht mehr viel Zeit, denke ich. Darum wollte ich dir sagen..."
"Warum kamst du mich nicht besuchen? Meine Telefonnummer hast du, meine Adresse also auch."
"Du würdest mich sehen wollen - nach allem, was ich dir angetan habe?"
"Ja", sage ich grosszügig, denn so bin ich nun in Werners Augen und ich gefalle mir in dieser Rolle.
"Du würdest mich schwer wiedererkennen. Es wäre ein Schock für dich." Der Mann am anderen Ende der Leitung holt tief Atem und setzt zu einem Wort an, das er nicht ausspricht und das diesmal ich erfragen sollte. Ich tue es aber nicht. Stattdessen kichere ich plötzlich: "Auch du würdest mich schwer wiedererkennen und auch für dich wäre es ein Schock mich zu sehen."
Der Mann schweigt lange, ich halte still den Hörer in der Hand und warte, bis er mühsam hervorbringt: "Es ist mir vieles abhanden gekommen, Christine: das Lachen, die Zeit."
"Mir auch, Werner. Was vor fünfzehn Jahren war, spielt längst keine Rolle mehr."
"Ich habe dich vor fünfzehn Jahren verlassen, bin mit ... na ja, du weißt schon, weggelaufen. Wir waren doch kaum in die neue Wohnung eingezogen, wir haben die Hochzeit vorbereitet. Und du sagst, es spielt keine Rolle mehr?"
"Nein."

Ich nehme vom Tisch ein schmutziges Messer in die Hand und beginne, mit den Marmeladenschlieren auf der weichen Butter Ornamente zu zeichnen.
"Werner, hattest du in letzter Zeit auch Lust gehabt, das Brot auf dem Tisch verschimmeln zu lassen?"
"Du meinst, den Tisch nach dem Essen nicht mehr aufzuräumen, nichts anzurühren, alles liegen zu lassen?"
"Ja, genau."
"Nicht nur Lust, ich habe es auch getan."
Dass ich wieder nicke und lächle, kann Werner weder hören noch sehen.
"Warum stellst du mir solche Fragen, Christine? Warum fragst du nicht, ob ich glücklich war mit ihr, mit der anderen?"
"Würdest du mich sonst anrufen? Jetzt?"
"Und du - bist du glücklich geworden?"
"Ja. Sehr sogar."
"Hast du Kinder?"
"Drei."
"Buben oder Mädchen?"
"Zwei Söhne und eine Tochter."
Werner schweigt wieder und atmet dicht an meinem Ohr. Auch aus dem Kinderzimmer höre ich synchrones Atmen. Es geht beruhigend hin und her durch die stille Wohnung.
"Bist du noch da, Werner?"
"Ja."
"Und du, hast du Kinder?"
"Nein, ich hatte keine gewollt, jetzt bin ich froh darum."
"Warum?", frage ich.
"Ich würde sie nicht aufwachsen sehen."

Ich gleite vom Stuhl auf den Boden und breite die Zeichnungen vor mir aus. Das Papier ist von der Feuchtigkeit des Dezemberabends gewellt, die Farben verwischt, die Ecken zerknittert. Nach dem Abendessen haben die Kinder die Bilder feierlich vor die Haustür gelegt. Ihr Vater würde sie schon finden. Sie wollen nie hören, wie ich mich hinausstehle, wollen nie wissen, wohin ich ihre Zeichnungen versorge, sind am Morgen zufrieden, dass die Steinplatten leer sind und der Himmel über dem Garten voll von Windgeflüster.

Da stelle ich endlich die Frage: "Was hast du Werner?"
"Ich bin krank."
"Sehr?"
"Sehr."
"Was kann ich für dich tun?"
"Ich habe deine Stimme gehört - und jetzt möchte ich dich noch einmal riechen."
"Du wirst enttäuscht sein, Werner."
"Bitte", sagt er.
"Gut.", meine ich. "Dann komm."
"Jetzt?"
"Wenn du willst."

Dann lege ich den Hörer auf, ganz sanft, als könnte ich die Kinder mit dem feinen Geräusch wecken und Werners Stimme aus meinem Gedächtnis verscheuchen. Ich trage die Butter und das Brot in die Küche, räume den Esstisch auf und wische die Kakaolachen weg. Dann bücke ich mich, hebe die drei Bilder auf, gehe mit ihnen ins Schlafzimmer, lege sie aber nicht in meinen Schrank, sondern auf das Bett. Auf die Rechte Seite, auf Davids Platz. Heute wäre sein Geburtstag.