Katja Fusek
2006
Der Ameisenwalzer
von Katja Fusek
"Ameisen sind
bezaubernd", sagt der neue Freund meiner Mutter. Seine langen Finger
trommeln dabei auf das Tischtuch. Gegen meinen Willen wippt mein Kopf
mit im Rhythmus seiner Finger. Dazu wiederhole ich stumm im
Dreivierteltakt: be-zau-bernd, be-zau-bernd ... Warum sollen Ameisen
bezaubernd sein und wieso klopft er einen Walzer auf den Tisch? Ich
zwinge mich, meinen Blick von seiner Hand zu nehmen. Während ich aus dem Fenster starre, meint der neue Freund meiner Mutter: "Bei den Ameisen
sorgt nur die Königin für den Nachwuchs. Nach dem Begattungsflug sterben die Männchen und die Königin wirft die Flügel ab und legt ihr Leben
lang Eier."
Die Ameisen interessieren weder mich noch meine Mutter.
"Ich bin der Bastian", hat er gleich auf der Fussmatte gemeldet, als er
noch gar nicht in der Wohnung drin war. Er versuchte dabei zu strahlen,
und ich hatte mit den Achseln gezuckt. Wenn es unbedingt sein muss.
Lieber wäre ich beim Sie und Herr Strahmer geblieben. Aber offenbar
glaubte sich der neue Freund meiner Mutter vor uns beiden jung fühlen zu müssen und wahrscheinlich nahm er an, dass Distanzlosigkeit heutzutage
zum Jung-Sein gehört. Das Dutzen als Pflichtprogramm. Drei Küsschen
liess ich mir aber nicht aufdrängen. Ich reichte ihm die Hand und ging
in die Küche nach den Töpfen schauen.
"Aus allen Eiern können sich theoretisch Königinnen entwickeln, sie
müssen jedoch mit einem besonderen Futtersaft ernährt werden", erklärt
Bastian und schöpft sich von der Sauce nach. Die Finger seiner linken
Hand trommeln dabei weiter im Dreivierteltakt. Ich suche den Blick
meiner Muter, sie hält ihn aber auf ihren Teller gesenkt. Ich stehe auf, um Salz aus der Küche zu holen und auf dem Weg höre ich: "Die
unfruchtbaren Weibchen ohne Flügel sind für alle Arbeiten im Bau
zuständig - nur nicht für die Fortpflanzung."
Ich lasse mir Zeit bei der Suche nach dem Salzstreuer.
Wenn Bastian nicht über Ameisen redet, schweigt er. Trotzdem zieht er bei uns ein.
Er richtet sich die Kammer neben meinem Zimmer als Arbeitsraum ein. Die
Holztür, die unsere beiden Zimmer verbindet, schliesse ich mit dem
Schlüssel ab. In die Kammer stellt Bastian seinen Computer und die
Ameisen-Bücher und CDs. Weilt er nicht in der Bank oder in Mutters
Schlafzimmer, ist Bastian in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen und
geht mit den Ameisen auf Reisen. Dann ist er für uns unerreichbar.
Mutter freut sich, dass ihr neuer Freund bei uns wohnt. Sie redet zwar
nicht darüber, aber die Freude ist ihr anzusehen. Sie leuchtet aus ihrem Gesicht.
An einem Frühlingsmorgen entdecke ich eine schwarze Schnur am Boden
meines Zimmers. Sie ist fein und pulsierend. Sie zieht sich zuckend vom
morschen Fensterrahmen quer über das Parkett zur verschlossenen Tür, die mein und Bastians Zimmer verbindet, und verschwindet unter dem unteren
Rand. Eine Schnur von schwarzen Ameisenkörpern, die zielstrebig durch
mein Zimmer marschieren. Sie gehen ihren Weg und beachten mich nicht.
Ich aber kann mich auf nichts anderes mehr konzentrieren, als auf die
kleinen, stummen Insekten, die aussehen, als hätte sie jemand in drei
Stücke gehackt und wieder lose zusammengefügt.
Beim Abendessen sagt Mutter: "Wir müssen Ameisenfallen legen."
Bastian meint, die Ameisen gingen mit der Zeit schon weg. Wir sollen sie ruhig ihren Umzug beenden lassen.
"Quer durch mein Zimmer?" frage ich.
"Weißt du, dass die Ameisen ihre Pfade mit Duftstoffen markieren und die Wege zu richtigen Strassen ausbauen? Sogar mit einer Überholspur."
"Ich will keine Ameisenautobahn in meinem Zimmer", sage ich und setzte
böse hinzu: "Man muss keine Ameisenfallen legen, ein bisschen Backpulver genügt auch. Das fressen die Ameisen, quellen auf, immer mehr, immer
stärker, bis sie nicht mehr in ihren harten Panzer hineinpassen und
explodieren."
"Hört jetzt auf mit den Geschmacklosigkeiten!" Mutter wirft Bastian und
mir einen angewiderten Blick zu. "Ausserdem habe ich kein Backpulver im
Haus."
In der Nacht wache ich auf. Ameisen. Klein, flink, lautlos. Ameisen in
meinem Bett. Ich bin ihr Pfad. Sie betreten ihn bei meinem rechten
Mittelfinger, kriechen über meinen nackten Unterarm, den Oberarm, über
die Schulter. Sie lassen sich durch den Hügel des Schlüsselbeins nicht
beirren, eilen weiter, überqueren den Hals, gelangen bis zur linken
Schulter, gleichgültig durchwandern sie die gewellte Landschaft meines
Körpers, kriechen hinunter auf das Laken, von da zum Bettbein und auf
den Boden. Ich springe auf und streife die Ameisen verstört von meinen
Armen, meinen Händen, meinem Hals ab und es dauert lange, bis ich merke, dass sich überhaupt keine Ameisen auf meinem Körper befinden, dass die
Insekten nur durch meinen Traum gehuscht sind. Am Boden zuckt immer noch die Ameisenschnur. Sie schlängelt sich vom Fensterrahmen zur
Verbindungstür. Mein Bett lässt sie links liegen. Doch die Erinnerung an die kribbelnden, trockenen Beinchen hat sich in meiner Haut
eingenistet. Dort werde ich sie nicht mehr los.
Ich kauere mich auf das Parkett und beobachte die Ameisen, wie sie unter der Verbindungstür verschwinden. Als ich mich wieder erhebe, streift
mein Blick die Holztäfelung der Tür und bleibt ungläubig an einer Stelle haften. Und dann finde ich etwas heraus, nicht sofort, aber nach und
nach, und es ist ein Schock für mich. Nein, nicht ein Schock, eine
Schockwelle, weil Wellen sich ins Unendliche ausbreiten, nie ausklingen, sich immer neu gebären.
Ich taste die Stelle an der Tür mit den Fingern ab und weiss, was ich in Bastians Zimmer entdecken werde.
Leise schlüpfe ich ins Nachbarzimmer. Nachts schläft Bastian bei meiner
Mutter und seine Kammer ist leer. Ich schliesse die Tür vorsichtig
hinter mir und knipse die Schreibtischlampe an. Die Ameisenkolonne
erblicke ich sofort. Von der Türschwelle bewegt sie sich über den Boden
zum Fenster von Bastians Zimmer. In der Arvenholztäfelung der
Verbindungstür finde ich das Astloch. Fingerbeerengross. Es ist nicht
leer. Der Astknorren ist zwar herausgefallen, aber es steckt ein Stück
Weinkorken darin. Deshalb ist mir das Loch von der anderen Seite der
Tür, von meinem Zimmer aus, nie aufgefallen.
Ich ziehe den Korken heraus und lege mein Auge ans Loch. Ich sehe:
meinen Spiegel, mein Bett und das Schaffell davor. Meine Ankleide-Insel. Auch die Kleider, die ich ausgezogen und über den Stuhl neben meinem
Bett gelegt habe, sehe ich. Und ich stelle mir vor: mich vor dem
Spiegel, immer halb nackt und nur oben, weil ich mich schäme, ganz
entblösst allein vor dem Spiegel zu stehen. Jetzt bin ich froh darum. Um meine Scham.
Das Auge am Guckloch, spähe ich in mein eigenes Zimmer hinein. Ein Film
läuft dort ab. Immer der gleiche. Mein Aus- und Anziehen am Morgen und
am Abend. Das geht so: Ich komme aus dem Badezimmer und stelle mich auf
das Schaffell vor meinem Bett. Der Holzboden um das Schaffell herum ist
immer unangenehm kühl. Im Winter und im Sommer. Unter dem Nachthemd
ziehe ich zuerst die Unterhose an, dann die Socken oder die Strumpfhose. Jemand betrachtet mich aus dem Spiegel. Ich bin es - natürlich. Es gibt aber Augenblicke, wo ich daran zweifle. Manchmal schält sich ein
unbekanntes Gesicht aus meinen Zügen heraus. Das ist beunruhigend. Mein
eigener Blick im Spiegel wirkt fremd und unheimlich. Ich habe beinahe
Angst vor ihm und es ist aufregend und beschämend, sich ihm nackt - wenn auch nur halb - hinzugeben. Als ich unten bekleidet bin, streife ich
das Nachthemd ab, werfe es aufs Bett und beuge mich zum Stuhl, wo der
Rest meiner Garderobe liegt. Ich ziehe den BH an, das Unterhemd und den
Pullover, dann die Hose oder den Rock. Schnell und effizient. Am Abend
dieselben Handgriffe in umgegehrter Reihenfolge: Zuerst aus dem Rock
oder der Hose steigen, dann den Pullover ausziehen, das Unterhemd und
den BH. Verstohlen meine Brüste betrachten, die ich schön finde, rund,
klein und weiss, dann schnell in das Nachthemd schlüpfen und darunter
die Strumpfhose und die Unterhose hervorzaubern.
Ich drücke den Korken wieder ins Loch und gehe in mein Zimmer zurück.
Ich nehme ein Pflaster und verklebe das Astloch auf meiner Türseite. Ein Stück Klebstreifen drücke ich auf den Spalt zwischen Parkett und dem
unteren Türrand. Ein paar Ameisen bleiben darunter haften und drücken
als dunkle Hügelchen durch den durchsichtigen Klebbandstreifen. Auch
gut. Dann hole ich einen Hammer und einen Nagel aus der Werkzeugkiste.
Den Nagel werde ich am Morgen, wenn Bastian und Mutter zur Arbeit
gegangen sind und ich die erste Schulstunde schwänze, in die Tür über
dem zugeklebten Astloch schlagen und den Spiegel daran hängen. Wenn
Bastian am Abend den Korken herauszieht, erblickt er das Pflaster und
wenn er das Pflaster entfernt, hängt mein Spiegel mit seiner schwarzen
Rückwand vor seinem Auge und versperrt ihm die Sicht. Und sollte er sich zum Türspalt bücken, sieht er dort die Ameisen zu Tode geklebt. Kein
Film mehr. Keine Ameisen mehr.
Am nächsten Morgen hänge ich den Spiegel auf und kaufe Backpulver. Ich verstreue es auf dem Boden in meinem Zimmer.
Seither, wenn ich mich vor dem Spiegel an- und ausziehe, bin ich mir nie mehr sicher, dass in der glatten Fläche doch nicht ein winziges Loch
lauert und dahinter ein neugieriges Auge. Ich kann den Film in meinem
Kopf nicht stoppen, ich spiele die Hauptrolle darin.
Brüchige Ruhe kehrt nur in den Momenten ein, wenn ich Bastian und Mutter im Schlafzimmer höre. Bei ihren lauten und leisen Geräuschen schlafe
ich ein und weiss, dass in dieser Nacht das Astloch blind bleibt und
keine Insektenbeine über meinen Körper kribbeln werden.