Lu Bonauer (Luna)
2006
Mädchen der Nacht
von Luna 2006
Je mehr Kerzen deine Geburtstagstorte hat, desto weniger Atem hast du, um sie auszublasen. (Jean Cocteau)
Mädchen der Nacht Gegen Morgen schwindet das körperliche Wohlgefühl. Es
flieht viel zu schnell. Verschiedenste Geräusche um sie branden heran.
Ein Telefon klingelt, eifrige Schritte auf den Treppenabsätzen. Henri
kann es nicht sein, denkt sie. Sie tastet nach dem Heiland und hängt ihn schnell zurück an den Nagel, den sie in der Wand auf einmal
wiederfindet. Sie muss sich im Bett abstützen. Alles hier ist wieder
kalt und kahl. Nur ihre Wangen glühen noch immer. Ich bin wieder ein
Mädchen, ist ihr erster Gedanke, als die Augusthitze sie kurz vor Mittag weckt. Doch mit jedem Augenaufschlag wird sie älter, eine junge Dame,
inmitten der Adoleszenz, im Disput mit der eigenen Sexualität, eine
Verheiratete. Bald schon in den Wechseljahren, die sie damals kaum
mitbekommen hatte. Keine nennenswerten Schlafstörungen, keine
Hitzewallungen. Ab und an ein Niesen, das peinlich in die Hosen
tröpfelte. Sie strauchelt schweißnass aufs Klo, schleppt sich zu ihrem
Gesicht, das sie still im Spiegel betrachtet, das glanzlose, dünner
werdende Haar, die schmalen Alterslippen, die welkende Haut. Mit
schlafweichen Fingern rafft sie ihr Nachthemd. Spätestens beim
Wasserlassen ist sie wieder 71: es will nichts kommen. Die Blase spielt
ihr einen Streich. Umständlich zieht sie die Vorhänge beiseite und dann
wieder ein leiser Druck in der Blase, der sich bewahrheitet, Gott sei
Dank! Sie lässt es kräftig plätschern. LETZTE NACHT HABE ICH ES WIEDER
GETAN. Jäh fühlt sie sich fremd, leer, schmutzig. Am liebsten wäre sie
im Geräusch der Spülung verschwunden. Sie streckt die Hände unter ihr
Gesäß. Sie benetzt Stirn und Nacken mit Spülwasser, wenngleich sich das
nicht geziemt. Sie hört die Mutter Oberin schimpfen, wer die Gebote
nicht befolgt, macht sich in den Augen Christi strafbar. Fast stößt sie
beim Herrichten des Bettes mit DEM da zusammen. Ja, denkt sie, du
Heiland hast es gut an deinem kühlen Kreuz. Jahrelang hing es in der
Stube. Irgendwann nach Henris Tod hat sie es ins Schlafzimmer geholt,
über ihr Kissen gehängt, in die Stille, die nicht verging. Man könnte
meinen, eine Wohnung würde mehr Platz bieten, wenn der Ehemann stirbt.
Aber sie ist kleiner geworden, jedes Jahr ein wenig mehr.
Natürlich hatte sie damals auch schmachtend den Anblick ihrer
Fingernägel bewundert, diese reizende verdichtete Frühvollendung,
hauchdünne Nagelhäutchen, oben die weißen Augenbrauen aus Keratin, das
gewölbte Rosa der Nagelplatte. Doch das Allmachtsgefühl, dass sie aus
der weiblichen Fähigkeit, Leben zu schenken, spürte, legte sich schnell. Ihre Tochter war eine von der Außenwelt auferlegte Pflicht. Trotzdem
machte sie wacker weiter, obschon es die heimlichen Momente gab, in
denen sie nicht sehen wollte, wie dem Mädchen Brüste wuchsen. Doch sie
blieb. Fast 50 Jahre. Die Apollo 11 landete auf dem Mond und während
nebenan ihre Tochter schlief, zwölf Jahre alt geworden, waren sie und
Henri noch immer seltsam aufgeregt, weil jetzt für die Menschen so viel
möglich war. Sie legten sich danach aufs Bett. Sein vertrautes Gewicht.
Ihre Hände auf seinem Gesäß, damit es sich nicht so sehr hob und senkte. Bis Henri sich wegrollte. Bis Henri zufrieden einschlief, sanft und
geräuschlos. Sie schmiegte sich in seinen Atem und konnte nicht
einschlafen, weil sie Sophie vermisste, ihre Hände, ihren weichen
Körper. Sie lehnte sich im Bad mit dem Rücken gegen die Kacheln, schob
leicht das Becken nach vorne und massierte sich da unten, zuerst
zaghaft, zwischendurch hörte sie auf, kämpfte mit ihrem Gewissen, setzte den Finger wieder auf und ließ es unter Tränen geschehen, bis es sie
durchströmte, mal keuchend, mal still. Danach griff sie schnell zum
Waschlappen und reinigte ES. Sie hoffte, weder ihre Tochter noch Henri
mögen es bemerken, dass sie körperlich so entspannt war, wenn sie den
Esstisch deckte und geistig so aufgerieben, vielleicht sähe auch der
Pfarrer wie sie glühte und würde dem Pontifex Maximus nach Rom Meldung
machen - aber es summte so schön, wenn sie sich da unten anfasste! Und
nahe bei Sophie war. Sie trat jeweils aus dem Bad, als käme sie von
einem endlosen Spaziergang wieder zurück. Die Nationalmannschaft kickte
sich eben in den Final. Hinter dem Haus im kleinen Garten schlingerte
und schlurrte ein Rasenmäher hin und her und schluckte Grasschnipsel um
Grasschnipsel. Henri stürzte über einen Stein, der schon seit Jahren
dalag. Es blutete in sein Hirn. Hämorrhagischer Insult. Sie lernte
irgendwann, ohne Henri einzuschlafen. Sie traf andere in ihrem Alter und machte mit ihnen Ausflüge. Sie spazierte mit ihrer Tochter am Rhein,
und kaum war sie von einem Spaziergang zurückgekehrt, war es schon bald
wieder Abend. Und dann, eines Morgens, trat sie ans Fenster und seit
Henris Tod waren vier Jahre vergangen.
Sie öffnet den Mund und fährt mit der Zunge über den Rand ihrer
Unterlippen. Sie sieht ihre Zungenspitze verschwommen. Erst jetzt
bemerkt sie auf der anderen Strassenseite vor einem Kleiderladen, aus
dem teuflische Musik wummert, ein junges Liebespaar. Mit wildem
Zungenschlag unter der Spätnachmittagssonne, unbeherrscht, küssen sie
sich weg. Das Mädchen hat Ähnlichkeit mit Sophie, ihrer besten Freundin. In ihrem Schoss wird es ganz warm, wie damals: SOPHIE. Zusammen halten
sie jeweils ihr Gesicht an den kalten Spiegel im Waschraum, schauen
angestrengt, sprachlos, wie durch ihn durch in eine andere Welt. Wenn
Soeure Madeleine im Nachtzimmer das Licht löscht und die anderen Mädchen allesamt schlafen, nimmt Sophie sie wieder in den Arm. Eigentlich will
sie es nicht, wenn die Sophie aus dem Vorarlberg sie so berührt. Und
dennoch streichelt sie zurück, streichelt ihre Brüste, ihre glatte Haut, ihr zartes, schattiges Schamhaar und hört, wie Sophie mit ihrem
frühreifen Körper stöhnt, wenngleich sie einen anderen Akzent hat,
stöhnt sie genauso. Danach liegen sie beide mit Socken unter der
Bettdecke, weil es im Schlafsaal kalt ist und lauschen ihren kleinen
Herzen, die heftig schlagen. Wir sind Verdammte, flüstert sie später,
obschon sie weiß, dass Sophie bereits schläft. Sie schiebt die
Erinnerung beiseite. Eine auffällig rote Blume behält sie in der
Gegenwart, ein Weihnachtsstern am Steißbein des Mädchens. Sie hat nur
Augen für das Mädchen, das plötzlich weggestoßen wird, ziemlich unsanft, derweil der Bursche an seinen grässlichen Gürtel greift. Diese
Perverse!! Ich kann nicht, wenn uns jemand beobachtet, schon gar nicht
eine Alte! So lass sie doch, entgegnet das Mädchen. Das kann uns doch
egal sein. Diese geile Oma. Sie ist bloß ein Sack voller Knochen! Da
beginnt sie wegzukriechen, ihre eigene Übelkeit riechend, schnell nach
Hause in ihr Gewässer. Speichel trieft aus ihren Zähnen und vermischt
sich mit dem Schweiß, das entsetzliche Parfüm, das ihre schlappen
Glieder ausdünstet. Ihr verzagter Ausdruck als tiefe Falte im Gesicht.
Sie stampft mit den Füßen. Das Metallkreuz fährt schnurrstracks in den
Boden. Sie tastet die Wand vergebens nach dem Nagel ab. In der
Kommodenschublade liegen keine Ersatznägel. Dafür ihre Taufkerze. Wie
nach langem Schlaf streckt sich der Docht. Ihre Augen bekommen einen
trotzigen Glanz. Langsam fährt sie die Linie ihrer Augenbrauen entlang.
So ist es besser. Hier noch ein bisschen breiter. Sie zeigt sich am
Fenster, steht an diesem schmalen Fenster, hinter dem sich ihre Wohnung
verbirgt. In der Abenddämmerung umarmen sich zwei junge Frauen. Ein
Abschied. Es ist, als sterbe in ihr etwas mit. Was wäre möglich
gewesen?, ist einer ihrer letzten Gedanken des Tages. Und dann,
undeutlich, fallend: Es gibt halt nur dies. Neben ihr im Kissen beginnt
es zu atmen. Etwas berührt sie. Aber der Heiland! Sie will den Heiland
nicht zittern sehen und schiebt ihn unters Bett. Ihr Nachthemd gleitet
wie von Geisterhand an ihren Beinen entlang weg, über ihre Füße und
dasselbe mit den Neilonstrümpfen. Das Letzte an ihr wird weggezogen. Das Mädchen lacht hell auf und riecht an ihr, küsst sanft ihre
verschollenen Brüste und drückt sie langsam aufs Bett. Sie will sie
wegschreien, jetzt gleich, und alles wieder an die richtige Stelle
bringen. Dass sie doch bloß ein Sack voller Knochen ist, habe sie ja
selber gesagt. Das Mädchen bedeckt sie mit einem verwunschenen Blick,
betrachtet ihre wie Flügel auf dem Schoss ausgebreiteten Hände, ihre
volle, Taille, die Linie ihrer Schultern, die außerordentliche Blässe
ihres Halses, die vielen Äderchen und braunen Flecken, den schmelzenden
Verschluss ihrer Lippen, die sie mit den Fingerspitzen liebkost, küsst
dann den Mund, die kleinen Fältchen, die an ihre Lippen stoßen, und legt sich auf sie. Schlanke Finger verschwinden in ihr und glühen
unverschämt. Sie kann sich nicht bewegen. Ihr Geist ist längst
versunken. Sie weiß nicht, ob sie weinen oder lächeln soll. Wieder
dieses Gefühl, etwas lichte sich. Sie schliesst die Augen, beginnt
zaghaft mit ihren Daumen über glatte Haut zu streicheln, den Rücken
hinunter gleitet ihre Hand über ein leuchtendes Tattoo, über kaminrote
Hochblätter, und bald weiter, immer weiter kreisend, in weiches, warmes
Licht, Jahre zurück, wie in einem Flug durch Träume. Sophie, flüstert
sie und atmet gleich schwerer. Hitze zieht los, durch ihren Schoß, zu
ihren Brüsten, und schwappt ihr ins Gesicht. Sie erschrickt ab dem, was
sich alles engagiert, was noch in ihr ist, hat das Verlangen, ohnmächtig zu werden oder noch besser, genau in diesem Moment zu sterben, doch als sie den Mond am Himmel stehen sieht, bleich und stumm, wie ein
Waisenkind, treibt es ein, alles überragendes, Lächeln auf ihr Gesicht;
mit beiden Händen fährt sie sich durchs Haar, durch ihr langes, glattes
Haar, schwarz glänzend wie frisch geriebene Tusche. JETZT BIN ICH WIEDER BEI DIR: SOPHIE. Sie fängt an zu tanzen, mit schlanken, anmutigen
Gliedmassen, strahlenden Augen, tanzt sie auf Mädchenfüßen durch die
nächtliche Stube, die, in vielen Schatten, einem neuen Tag
entgegenzuckt.