Lu Bonauer

2004

Der Cellist - Oder ausbluten

von Lu Bonauer

In letzter Zeit stellt sich der Cellist vor, dass er auf dem Bett liege und nicht mehr wird aufstehen müssen, statt dessen im Beisein seines links neben der Zimmertür stehenden Cellos und Lebensgefährten, dem er verschmähende Blicke zuwirft, die Möglichkeiten eines bevorstehenden Tagesinhaltes durchginge. Er läge den ganzen Tag im Bett und malte sich die verschiedensten Möglichkeiten aus, wie er seinen Tag verbringen könnte, er würde liegen bleiben, damit er sich nicht für eine Möglichkeit zu entscheiden brauchte. Für Schlaftabletten hätte er nur die Hand auszustrecken. Eine Flasche Erkältungsmittel ziert das Tischchen unter dem Spiegel vor seinem Bett, die Flasche Korn ist allgegenwärtig, der er sich dann und wann nach den Konzerten widmet, allein oder mit Wenzel, dem Pianisten.
Das Spiegelbild würde dabei seine noch immer lockige, fast weissliche Löwenmähne zeigen, die sich selbst im Liegen bis in den Nacken ergiesst. Der Bart, sonst von der vorne an der Stirn hochstehenden, vom Cellospiel unwiderstehlich aufgewirbelten Lockenpracht verdrängt, käme ein bisschen besser zur Geltung. Eigentlich wirkt der Bart königlich, aber zieht nicht annähernd so viele Publikumsblicke an. Um den Hals trägt der Cellist eine holzige Kette, gekauft auf einer seiner ersten Konzertreisen, die einzelnen Kettenteile sehen aus wie Holzschiffchen und wenn sich der Cellist, meist auf irgendwelchen gesellschaftlichen Anlässen, unsicher fühlt oder aufgeregt, gar ängstlich ist, greifen seine Finger nach ihnen.
Immer ist es so. Nach dem Anfangsapplaus folgt erwartungsfrohe Stille. Der Flügel Wenzels darf eröffnen. Während der Cellist den goldenen Hauch seines Pianisten im Nacken spürt, wagt der Cellist einen Blick auf all die Zuschauer, diese namenlosen Menschen, bald Gespenster vergangener Tage; er lauscht dem Gewirr geräuschloser Stimmen, seine ziellosen Betrachtungen verdeutlichen und konturieren eine weitere Gefühlsempfindung, bis ein Atemzug auch diese wieder verblassen lässt. Er selbst wird zum Gespenst, wenn nichts mehr Neues nachkommt.

Der Cellist beschliesst, für den Rest des Konzerts die Augen zu schliessen und sich in seine Noten fallen zu lassen.

Während seine Finger wundervoll Musisches verrichten, entfachen, wandert sein innerer Blick wieder durch sein Schlafzimmer mit dem Bett und dem Spiegel, sieht sich auf dem Bett liegen, das Cello verschmähend. Das Cello ist zu einem Resonanzraum seiner Seele geworden, indem es schreit und brummt, rumort, mokiert, lästert, verschmäht, beklagt, lamentiert - besänftigt, verführt, liebkost, züngelt, neckt und liebt und so fort. Die ganze Palette gefühlsbetonter Handlungen. Zu fest ist der Cellist selbst mit dem Körper und Geist des Instrumentes verschmolzen, mit all den Möglichkeiten, die er bis zum extremsten Saitenspiel ausgelotet hat. Das Cello hat seine anfänglichen Schmerzen längst vergessen, wenn er es bedient, kommt es schwärmend für seinen Meister mit, ist froh, so umsorgt von geübten Händen, so gebraucht zu werden, willig steht es auf der Bühne, lässt sich von den Konzertabenden umschmeicheln. Es mangelt dem Cellisten an Reibung, an Trotzreaktionen, an Widerstand. Der Cellist fühlt sich leer, sehnt sich nach Lebendigkeit, die er aus dem Cello so lange Zeit gefühlt und die sich auf ihn übertragen hatte. Ach, das Abarbeiten schwieriger Stücke, seufzt der Cellist. Rachmaninow beispielsweise und danach: Verschwitze Konzerthemde - nicht wegen dem Marathon über die Saiten, nicht die Saitensturzflüge seiner Finger, sondern wegen der ihn zwickenden Spielfuror, wegen der stundenlangen Hetzjagden durch anspruchsvolle Notenlandschaften, tiefe Täler, scharfe Klippen, versteckte Löcher, angetrieben durch die Musik. Die Musik, ja, schreit der Cellist. Er bändigt das Cello. Brahms-Sonate in e-Moll. Setzt sich, ohne die Augen je aufzumachen, über das von Wenzel vorgegebene Tempo hinweg. Er will diesem Standardwerk der Celloliteratur ein Maximum an Expressivität abtrotzen. Dann Johannes Brahms, die Saphische Ode - op.94, und Sergej Rachmaninow, Vivaldi, Schostakowitsch. Kontrastierend die Mittelsätze dabei. Das Allegro ein Kampf, das Largo ein erschöpfter Abgesang dagegen, dem grosse Schönheit entwächst. Später noch selbst arrangierte Lieder.

Längst hat der Cellist vergessen, dass seine Augen verschlossen sind. Dennoch: Wenzel und die Wärme des Publikums, ihre schwitzigen Hände, ihre ebenfalls selbstversunkenen Gesichter, die nie dahin sinken werden, wo er taucht, das alles spürt er trotzdem auf seinem zündroten Konzertstuhl, den er immer bei sich hat. Was wäre, wenn er mitten im Konzert aufstehen würde? Schweigend von seinem Schemel steigend, das Vibrato noch in den Händen, das Cello rumorend, als er es von der Bühne schleppt und ohne ein Wort auch nur jemandem zu sagen, ein wahres überraschendes und vorwurfsvolles Gemurmel der Konzertgänger entfacht, verliesse er die Konzertstätte, der schamdurchtränkte Gesichtsausdruck Wenzels, sein vorwurfsvoller Blick im Rücken. Wie wäre das? Schnurstracks in sein Haus fahren, das Telefon ausstecken und sich sofort ins Bett legen. Geahnt hat er es ja schon immer, das dieser Moment irgendwann kommen würde. Tage und Jahre funktioniert und gemacht, gewirkt, verstanden, sich vorwärts getrieben, gemacht, aufgestanden, und dann zeigt sich eine zischende Kraft, eine bis anhin im Schatten verborgen gebliebene, aber immer erahnte Kraft und legt alles still. Das Licht bleibt aus. Und zum erstenmal wird er im Halbdunkeln seines Zimmers das Cello betrachten, ohne zu wissen, ob er es nochmals brauchen wird, das Cello, dieser schwere holzige Bauch, und es schiene, als hätte das Instrument ihn weggebissen, aufgefressen. Du hast nichts mehr in dir, das du mir geben könntest, sagt es. All deine Gefühle sind in mir explodiert. Ich kenne sie alle, sagt das Cello und beginnt zu lachen. Das Lachen ist laut und verformt die Wände, wellt den Boden, das Spiegelglas droht, zu zerborsten. Ein Auslachen. Der Cellist erkennt die wahren Absichten seines engsten Begleiters, seines treusten Gefährden. Es hat ihn ausgesaugt, ist brav mit auf die Bühnen gekommen, hat sich schmeichelnd gezeigt, an seinen Körper gedrückt, die Bogenfahrten mitgemacht, hat geruht, hat sich nichts anmerken lassen und jetzt, nachdem es alles bekommen hat, fängt das Cello in der Stille an zu lachen. Diese Unverschämtheit, Berechenbarkeit, diese Hinterlist. Selbst das Lachen des Cellos scheint einst vom Cellisten selbst gekommen zu sein.
Je länger sich der Cellist, während das Konzert die zwei letzten Stücke atmet, so im Bett liegen sieht, sich liegend im Bett vorstellt, desto mehr hat er das Gefühl, nicht in seinem Haus zu sein, nicht in seinem Zimmer zu liegen. Das Licht beginnt sich zu verändern. Im Halbdunkeln reduzieren sich die Sachen auf ihre Umrisse; der Spiegel ist noch das Einzige, das er zu erkennen glaubt, und das Cello, natürlich das Cello, doch löst es sich plötzlich von der Wand, ist nicht mehr als eine Gestalt nun, die ihn bittet, ihm die Kehle durchzuschneiden. Flüsternd bewegt sie sich durchs Zimmer, ohne erkennbares Gesicht, in dieser jetzt dunklen Höhle. Bist du es Wenzel?, flüstert etwas tief im Kopf des Cellisten. Doch der Cellist ahnt voller Schrecken und Furcht in den Augen, wer da durch sein Zimmer geht. Jetzt trägt die Stimme ohne Gesicht schweigend den Cellobogen in der rechten Hand. Als Schatten huscht er vor und ruft diesmal den Cellisten zum Spiegel. Auf dessen ausdrückliches Verlangen soll ihm der Cellist bei lebendigem Leib den Hals öffnen. Sie werden verbluten aber, sagt der Cellist aufgebracht. Die Gestalt ohne Gesicht packt sich die Schnapsflasche, das Erkältungsmittel und die Schlaftabletten, damit der Vernichtungsschmerz doch etwas gedämpft werden könne, meint der Schatten und genehmigt sich von all dem nicht zu wenig. Der Cellist mag ihn nicht mehr umstimmen, dazu fehlt ihm die Kraft. Er lässt sich den Cellobogen übergeben und sieht wie sich der Gesichtslose feierlich vor den Spiegel kniet, andächtig, fast unterwürfig legt er den Kopf in den Nacken. Der Cellist positioniert den Bogen auf dessen Hals und schwenkt ihn hin und her. Das schattige Gesicht lächelt: gut so, flüstert es. Der Bogen ist scharf wie ein Messer. Während der Bogen sich hineinknabbert, Millimeter für Millimeter Hautpartikel dieses knienden Schattens abreibt, ertönt Musik. Wunderschöne Musik und der Cellist bringt ein Lächeln zustande hinter geschlossenen Augen; ein verstecktes Lächeln.
Längst glaubt der Cellist einen Toten zu bespielen, doch regt dessen Kopf sich noch immer, sodass er weiterspielt, bis das immer stärker herausströmende Blut anfängt in sein erregtes Ohr zu rauschen, zu tosen und dem Druck dieses Tosens und Rauschens seine Augen nicht mehr standhalten. Krampfhaft und mit schweren Gliedern empfängt der Cellist das ihn blendende Scheinwerferlicht, schwankt im Applaus des Publikums, schwenkt das Cello heftig zur Seite, als reisse er sich das Instrument aus dem Leib, das Publikum wird es ihm nie vergessen haben, als eine letzte theatralische, meisterwürdige Geste. Ein fulminanter Solistenabend für all seine vielen Bewunderer. Mit zittrigen Beinen, als werde er wieder lernen müssen, alleine zu gehen, steht der Cellist vor den vielen ergriffenen Gesichtern, klatschenden Händen. Wenzels schwarzer Frack taucht neben ihm auf. Er sieht Wenzels Lächeln ins Publikum flattern. Der Cellist, etwas verwirrt, aber so war er immer schon, nach dem Auftauchen aus seinen Stücken, nach dem Versinken in seine Stücke, greift sich an die Holzkette, verneigt sich im Sog von Wenzel ebenfalls. Hinter dem Schleier seiner Routine bemerkt er etwas Blut auf dem Bogen und an den Saiten und dorthin wo es tropft, stehen schon seine Schuhe, in einer Blutlache. Wie viel Blut kann ein Cello verlieren, bevor.., denkt er und erkennt mit plagendem Gewissen, bald, vielleicht schon bald den richtigen Zeitpunkt versäumt zu haben.