Michael Schmid
2004
Hinter Glas
von Michael Schmid
(Anfang einer längeren Erzählung von ca. 80'000 Zeichen)
Auf dem Weg dorthin kauften wir eine Flasche Whiskey und Zigaretten, das hatte sich so ergeben, und wenn wir endlich wieder oben im Pavillon
sassen, dann klaubte ich die Zahnseide, das Taschentuch oder den Korken
aus meiner Hosentasche, wir drehten und wendeten das Beutestück im
spärlichen Licht, lächelten, und dann lehnten wir uns zurück, zündeten
eine Zigarette an und bliesen den Rauch über alles hinweg: Die Lichter,
den See und die Antenne in der Ferne.
Wir waren ganz zufällig auf dieses Spiel gestossen, in einer Freitag
Nacht. Die Party war vorbei, wir waren betrunken und hatten Lust,
irgendwo noch was anzustellen. Wir standen alleine vor dem Club,
vielleicht gegen vier Uhr morgens, und plötzlich gehörte uns alles, war
alles in unserer Hand, lag einfach vor uns da und wartete auf unser
Zeichen. Die menschenleeren Strassen, die in endlosen Reihen parkierten
Autos und die Wohnblocks der Vorstadt, deren Umrisse sich in den rötlich schimmernden Himmel zeichneten.
Im ersten Stock über einem Motorradgeschäft stand ein Fenster offen, und Marc meinte bloss, dem da oben könnte man doch einen hübschen Besuch
abstatten. Marc redete viel, aber er machte nie etwas. Sogar wenn er
betrunken war, getraute er sich nicht. Nicht eine Frau anzusprechen, die er den ganzen Abend angestarrt hatte, nicht ein Glas Bier auf die Bühne zu werfen, weil die Band so schlecht spielte. Aber er sprach die ganze
Zeit davon. Ich aber hatte jeweils gleich Lust, tatsächlich das Bier auf die Bühne zu werfen, und natürlich war es Marc, der mich daran
hinderte. Immer hatte er diese Ideen, und diese Ideen waren wie eine
Taste, die ein Licht in meinen Kopf anmachte. Jetzt mach keinen Fehler,
sagte er jeweils, und ich liess es dann halt bleiben.
An diesem Abend war es dasselbe. Marc hatte wieder mal eine Idee, und
sogleich begann er, sich vor sich selbst zu fürchten. Ich aber hatte an
diesem Abend keine Lust, erst von ihm auf eine gute Idee gebracht zu
werden, die ich gleich wieder zu vergessen hatte. Ich wartete also nicht lange und zog mich an einer Regenrinne hoch bis zum Gesims im ersten
Stock. Von dort brauchte ich bloss noch nach rechts zu klettern, und
schon stand ich neben dem offenen Fenster. Natürlich war das nicht
ungefährlich, und Marc raunte mir von unten etwas zu. Ich aber wollte
das Ding jetzt einfach mal durchziehen. Vielleicht um Marc zu zeigen,
was er mit seinem ewigen Gerede anrichtete, vielleicht auch einfach so.
Ich stand auf dem Gesims vor dem Fenster und wartete. Von drinnen hörte
man nichts. Bestimmt schlief da jemand. Ich zog den Kopf leicht über die Brüstung hoch, aber da standen bloss ein Tisch, zwei Hocker, an der
Wand ein Regal mit Geschirr und hinten in der Ecke die Spüle, der Herd,
ein Schrank. Ich ging langsam aus der Hocke und schwang mich über das
Fensterbrett in die Küche. Und dann stand ich einfach im Dunkel, in der
Wohnung war es still. Ich wagte kaum zu atmen, der Puls schlug mir zum
Hals, meine Beine zitterten leicht. Erst wollte ich gar nichts
mitnehmen. Ich stand einfach in dieser Wohnung, und jeden Moment hätte
jemand das Licht anmachen können und mich entdecken. Aber es blieb
ruhig, und ich sog diesen Augenblick in mich ein wie nichts zuvor.
Hinter der Küche lag der Flur, man sah nicht viel, aber weiter hinten
öffnete sich eine Türe ins Wohnzimmer. Alles war nur vom Licht der
Strassenlampen erhellt, und auf dem Esstisch glaubte ich einen
Blumenstrauss auszumachen. Ich stand einfach da, und Marc wartete unten, gelähmt vor Angst. Ich aber wurde immer ruhiger. Ich war einfach bloss
da. Und ich war hellwach, war hier, nur hier in diesem Augenblick. Es
gab kein Vorher, kein Nachher, es gab keinen Gedanken an die Arbeit oder an die Streitereien mit den Eltern. Ich war einfach nur da. Ich hörte
das feine Tröpfeln des Wasserhahns im Spülbecken, ich hörte die
Geräusche unten von der Strasse, ich hörte sogar das Ticken eines
Weckers irgendwo.
Ich weiss nicht mehr, wie lange ich einfach in dieser Küche stand und
wartete. Wahrscheinlich war es bloss eine Minute, vielleicht waren es
zwei. Aber rückblickend erschien es wie eine Ewigkeit. Alles, was ich
bisher erlebt hatte, schrumpfte auf einen Augenblick zusammen, aber
dieser eine Moment, füllte sich prall und kräftig mit Leben und Gefahr,
ein hart gepumpter Ball, der in meinem Kopf beinahe zerplatzte. Und
plötzlich begann mein Herz wieder zu rasen, ich spürte das Pochen in den Schläfen, und meine Knie wurden weich.
Ich schlich zurück zum Fenster, auf dem Gesims lag eine Schachtel
Zigaretten, und ich griff nach diesem harmlosen Erinnerungsstück, ich
weiss nicht weshalb. Ich fingerte nervös eine Zigarette aus der
Schachtel und steckte sie in die Brusttasche meines Hemds. Und dann
neigte ich mich langsam wieder über die Fensterbank vor und blickte auf
die Gasse hinab. Marc stand immer noch unten und tat so, als betrachte
er die Motorräder. Aber von Zeit zu Zeit blickte er verstohlen nach
oben, und als er mich sah, machte er eine kaum wahrnehmbare Bewegung mit der Hand. Hinunter zu steigen war bedeutend schwieriger, und ich merkte plötzlich, wie betrunken ich war. Die Wohnung befand sich bloss im
ersten Stock, aber hinunter springen konnte man trotzdem nicht. Also
musste ich wieder über das Gesims zum Abflussrohr und von dort weiter.
Ich zerschnitt mir die Hände, weil ich so schnell abrutschte und landete vor Marcs Füssen.
Er sah mich bloss entsetzt an und wollte mich schon wegziehen, aber
plötzlich war wieder dieses Gefühl da, das ich sonst bloss vom Surfen
her kannte. Ich war mit dem Board in den hohen Wellen, versuchte aufs
Brett zu steigen, und plötzlich kam da eine Wand und warf mich durch die Luft. Wenn ich dann wieder auftauchte und nach Luft schnappte, donnerte bereits der nächste Brecher herab, ich schluckte Wasser und hatte
plötzlich das Gefühl, nie mehr an Land zu kommen. Wenn ich dann aber
schliesslich in Sicherheit war und rücklings im Sand lag, den Blick hoch in den Himmel gerichtet, schwappte plötzlich eine warme Welle von Glück durch mich, und ich wünschte sich, dieses Gefühl ende nie.
Als ich wieder unten auf der Strasse war, fühlte ich mich genau gleich.
Plötzlich war ich einfach da. Hier, jetzt. Nicht so wie oben in der
Wohnung, anders natürlich. Doch es war ein unbeschreibliches Gefühl,
unten auf der Strasse zu stehen, als sei nichts. Marc sah mich bloss
verständnislos an. Du bist wahnsinnig, zischte er, aber das kümmerte
mich im Augenblick nicht. Dann geh doch nach Hause, rief ich zu ihm,
doch er blieb bloss stehen und schüttelte den Kopf.
Wir gingen gemeinsam nach Hause, wir wohnten damals in der gleichen WG,
doch Marc sagte nichts mehr. Erst dachte er, ich hätte es bloss getan,
um ihm einen Schrecken einzujagen, ihm eine Lektion zu erteilen. Aber
darum ging es nicht. Ich hatte es nur getan, weil ich Lust dazu hatte,
ja, weil Marc wieder mal das verrückte Zeugs ausgesprochen hatte, auf
das ich alleine nie gekommen wäre.
Jeder für sich ist nichts, sagte ich zu ihm, aber zusammen sind die
unglaublichsten Dinge möglich. Erst sah er mich bloss verständnis los
an, doch als ich die Zigarette, die ich oben entwendet hatte, aus der
Brusttasche zog, ging plötzlich ein flüchtiges Lächeln über sein
Gesicht.
Wir hatten wie im Traum unsere Rollen gespielt, er als Drahtzieher, ich
als Vollstrecker, und nun war ein Feld eröffnet, auf dem wir weitergehen konnten, immer weiter. Marc plante die Aktionen und schob unten Wache,
ich stieg oben ein und nahm mit, was er sich ausgedacht hatte. Bring
eine Schraube, sagte er zum Beispiel, oder, hol etwas Notizpapier. Und
ich irrte durch diese fremden Wohnungen und suchte nach den Dingen, die
Marc sich ausgedacht hatte. Aber eigentlich hatte er alles so
vorbereitet, als steige er selbst ein. Er ging in Treppenhäusern hoch,
um besser auf die Wohnung gegenüber sehen zu können, er zeichnete Pläne, die mir bei der Orientierung im Inneren halfen, er brütete in
Bauarchiven über Grundrissen, um die Planung noch besser, noch perfekter zu machen. Aber natürlich lebte unsere Aktion von der Angst, entdeckt
zu werden, und für Marc war eines klar. Sollten sie mich schnappen, war
auch er dran. Und wenn ich mich wieder durch eine Wohnung tastete, da
war mir, als stünde Marc hinter mir, als flüsterte er mir ein, wo ich
noch suchen könnte, ja, als öffnete er mir die Kühlschranktüren, die
Schubladen und Vorratsdosen.
Wenn es jeweils vorbei war, rauchten wir oben im Pavillon unsere
Zigaretten, tranken das Bier, und es schmeckte uns besser als alles, was man sonst auf der Welt so bekommt. Wir hätten im Supermarkt diese Dinge fast umsonst haben können. Stattdessen betrieben wir diesen riesigen
Aufwand, kundschafteten Wohnungen aus, planten Einstiegsrouten, mussten
den günstigsten Moment abwarten und dann blitzschnell handeln. Wir
hinterliessen keine Spuren, das war unser Credo, es fehlte nach unserem
Besuch so wenig, dass es nicht auffiel, und wir hatten das Kribbeln, das wir suchten. Es war wie ein Wettkampf, auf den wir uns vorbereiteten,
und waren wir wieder mal erfolgreich durchs Ziel gelaufen, dann gingen
wir hoch in den Pavillon, rauchten eine Zigarette, nahmen einen grossen
Schluck aus der Whiskeyflasche und blickten über die Stadt hinweg, als
gehörte sie bloss uns und warte auf unsere Befehle. Wir hatten diesen
summenden, surrenden, glitzernden und blitzenden Organismus unter uns,
eine grosse und unerklärliche Krake.
Beim ersten Mal jedoch gab es diese Rituale noch gar nicht, es geschah
einfach so. Wir waren bloss einem Programm gefolgt, das schon so lange
in uns eingelagert war, und das nur darauf gewartet hatte, entdeckt zu
werden. Wir teilten nun etwas, das über alle die Jahre in uns
geschlummert hatte, wir waren zwei Zahnräder, die ineinander griffen und nun eine Maschine in Schwung setzten, von der wir beide nichts gewusst
hatten, und die doch einer so unabwendbar zwingenden Logik folgte, dass
wir uns staunend und willig zugleich unterwarfen. Eine neue Zeitrechnung hatte begonnen, wir folgten nun einem unsichtbaren Handlauf, den wir
dankbar ergriffen, und der uns in diese weite offene Ebene hinaus
führte, in der, wie uns schien, das richtige Leben erst begann.