Monica Jäggli
2007
Salziger Sommer
von Monica Jäggli
IX
Ein Junge im hohen dürren Gras, das in seine Beine sticht. Ein Junge
kauert sich hin, die Knie hochgezogen bis zum Kinn, die Haut gebräunt
von einem salzigen Sommer. Ein Junge wandert mit seinen Augen die
Schienen ab, welche unterhalb der Böschung durchlaufen. Über seinem
Daumennagel steht der Himmel. Ein Junge schaut und wartet.
I
Die Knaben haben eine zerbeulte Coladose gefunden. Johlend treten sie
Pässe, die Dose scheppert den überwucherten Schienen entlang: Wegwarte,
Huflattich, Kamille. Unter der Hitze sind ihre Stirnen geduckt, die
ersten Falten verborgen in fettiger Haut. „Einer dreht am Rad, einer
dreht eine Zigarette, einer dreht durch“, singen sie in unbeholfenen
Tonlagen. Bricht manchmal ein Ton ab, steigt ein Ton auf, wo man ihn
nicht erwartet.
Alb läuft mit den anderen. Füsse in Turnschuhen, verkrustete Knie. Seine Augen auf den Boden gerichtet, lässt er sich vorwärtstreiben, kickt die Coladose an, sie springt über die Schwellen und verschwindet im
Gestrüpp.
„Alb, das Kalb“, tanzen die anderen mit gebeugten Rücken. Sie schlagen
sich auf die nackten Schultern, schwingen ihre T-Shirts: „Wer ist der
nächste.“
II
Wo die Geleise einen Bogen machen, bleibt Alb stehen. Keiner wartet. Nur Alb, bis der Staub wieder zu Boden gesunken ist. Er klettert die
Böschung hoch. Die Grasbüschel sind trocken und graubraune Erde prasselt auf ihn nieder. Der Boden ist nah und warm. Alb zieht die Turnschuhe
aus. Seine Füsse sind aufgequollen. Er lässt sie baumeln und sieht ihnen zu. Eine einzelne Wolke steht über ihm und zerfranst.
III
„Ich weiss, du bist der Alb.“ Er nickt. „Ich heisse Elisa.“ Ihr
Stoffbeutel hat dunkle Flecken. „Ich war schwimmen. Im Weiher.“ Er nickt wieder und sieht, wie die Gräser im Himmel verschwinden. „Dann gehörst
du wohl zu denen, die nicht viel sagen.“ Elisa streckt sich neben Alb im Gras aus, ihr Rock rutscht ein wenig hoch. „Willst du etwas sehen?“
Elisa greift in den Beutel und zieht ihren Schlüpfer hervor. „So ein
Pech“, sagt sie. „Und das Badekleid ist nass.“ Sie blickt Alb forschend
an. Er starrt auf das feuchte dunkle Blut auf dem weissen Baumwollstoff. „Man sollte das Blut mit kaltem Wasser auswaschen, bevor es
eintrocknet. Sonst kriegt man es nicht mehr raus“, sagt Elisa. Sie
knüllt das Höschen wieder in den Beutel und legt ihn als Kissen unter
den Kopf. Alb schaut auf Elisas Haare. Alb schaut auf seine Hände. Ein
Flugzeug dröhnt über ihre Köpfe hinweg. Alb macht den Mund auf und
klappt ihn wieder zu.
IV
Unter den orangefarbenen Markisen seufzt die Mutter. Alb pult an einer
Wursthaut. Der Vater rülpst. „Deine Schwester ist an einem Grillfest“,
sagt die Mutter zu Alb und seufzt erneut. Auf dem Plastiktisch stehen
fünf leere Bierflaschen.
V
Alb liegt nackt auf dem Bett. Schneemänner schmelzen im Sommer. Durch
die offene Zimmertür hört er den Fernseher. Als der Vater an seinem
Zimmer vorbei geht, dreht sich Alb auf den Bauch. Nach einer Weile wird
es in seiner Bauchkuhle warm, aber er will in diesem seidigen Nest
bleiben. Doch dann wälzt er sich wieder auf den Rücken. Er streckt seine Arme in die Dunkelheit und wackelt mit den Fingern. Auch die Nacht
bleibt fremd.
VI
„Ich wusste, dass du hier bist.“ Elisa schaut zu ihm herab, ihr Gesicht
liegt im Schatten. „Warst du heute nicht schwimmen“, fragt Alb tonlos.
„Du weisst doch, warum nicht. Oder geht deine Schwester schwimmen, wenn
sie ihre Tage hat. Seit vier Jahren jeden Monat“, sagt sie theatralisch
und hebt ihr Gesicht gegen die Sonne. „Hast du gewusst, dass die Arme
eines Mädchens genau in ihre Taille passen?“ Elisa zieht ihr T-Shirt
aus. Alb blickt an ihr hoch, hinter ihrem Kopf drängt die Sonne hervor.
Elisa dreht ihre Arme ein wenig nach aussen und legt sie dicht an den
Oberkörper. Die Ellenbogen schmiegen sich genau in die Taille. Es sieht
schön aus. Alb schluckt. „Und bei dir?“ Sie zieht ihn an den Händen
hoch, streift ihm das T-Shirt über den Kopf. Sie hält seine Arme fest
und legt sie an seine Seiten. Elisa lächelt Alb an. „Du hast einen
goldenen Pelz.“ Sie fährt ihm über die Unterarme. Alb sagt ja.
VII
Er legt seine Hand in Elisas. „Ich muss jetzt los. Wo ist meine andere
Sandale?“ sagt sie. Alb fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Sie
sind heiss und aufgesprungen. Er blickt Elisa nach, wie sie die Schienen entlang läuft. Der Stoffbeutel schlägt gegen ihre Kniekehlen. Alb zieht die Hose hoch und riecht an seinen Fingern. Eine Eidechse zuckt über
einen Stein, dann erstarrt sie und lässt ihre glänzende Haut von der
Sonne aufwärmen.
VIII
Alb geht im Schatten der Bäume. In seinem linken Augenwinkel liegt die
Böschung. Alb kneift die Augen zu und folgt den aufplatzenden
orangefarbenen Schatten. Der Weiher blitzt zwischen dem Gebüsch
hindurch. Alb hört das Geschrei, das Platschen. Er steht versteckt
hinter einem Holzstapel. Über ihm zittern Birkenblätter. Alb sieht
geradeaus. Elisa liegt auf dem Badetuch. Alb schlägt. In seiner Hand
bleibt ein Holzsplitter stecken. Elisa dreht sich auf den Rücken und
kreischt, als der andere Junge sein nasses Haar über ihr ausschüttelt.
Alb hält die Hand nah vors Gesicht. Der Splitter ist winzig klein.