Patricia Büttiker (Petra Maier)
Puzzle
von Patricia Büttiker
Frau Blaser schob den Stuhl zurück und nahm ihre braune Ledertasche. Sie
stellte sie auf ihren Schoss, zog den Reissverschluss auf und griff
hinein.
„Das ist für euch.“
Sie streckte das Geschenk zuerst mir, dann Hanna, dann wieder mir hin. Ich nahm es entgegen.
„Dafür packe ich es aus“, murmelte Hanna, während sie es zu sich schob.
Sie zog die Masche auf und fingerte nachher am Knoten herum.
„Ich hole eine Schere“, sagte ich und stand auf.
Ich reichte Hanna die Schere, mit der Spitze nach innen.
„Geht schon.“
Sie zerrte das Band über die Ecken und Kanten. Ich schaute zum
Blumenstrauss, den Frau Blaser mitgebracht und Theodora gereicht hatte
mit den Worten: ‚Frisch gepflückt aus meinem Garten’. Die Gräser
zitterten leicht. Draussen schien die Sonne. Hanna wischte das Band vom
Tisch und schaute ihm nach, wie es zu Boden fiel. Sie fing an, mit den
Fingernägeln die Klebstreifen abzukratzen.
„Geduld, junges Fräulein“, sagte Frau Blaser. „Nimm dir ein Beispiel an
meinen Hühnern. Erst wenn das allerletzte Körnchen aufgepickt ist,
streue ich ihnen frische Körner aus.“
Frau Blaser lachte, ihr herabhängender Hals wackelte dabei.
„Geht das langsam“, sagte Hanna und riss das Papier auf.
Zum Vorschein kam ein Puzzlespiel.
„Haben Sie vielen Dank, liebe Frau Blaser“, sagte ich, stand auf und gab ihr über den Tisch hinweg die Hand.
„Herzlichen Dank“, sagte Hanna, stand auf und gab ihr die Hand.
Wir gingen mit dem Puzzle ins Schlafzimmer.
„Ich hole einen Karton“, sagte ich.
Um den Karton zu holen musste ich durch die Küche. Theodora füllte
gerade Kaffeepulver in den Kolben. „Kümmert euch bitte um Frau Blaser,
bis ich den Kaffee fertig habe.“
Ohne etwas zu sagen öffnete ich die Tür zum Arbeitszimmer, ging hinein
und nahm den Karton hinter dem Tisch hervor. Beim Hinausgehen zog ich
die Tür leise hinter mir zu.
„Ihr könnt sie doch nicht allein lassen“, sagte Theodora.
„Was hast du gesagt?“
Ich ging aus der Küche.
Im Schlafzimmer legte ich den Karton auf den Boden. Hanna machte die
Schachtel auf, nahm den Beutel heraus, riss ihn auf, leerte die Teile
auf den Karton und breitete sie aus, bis kein Puzzlestück mehr auf dem
anderen lag. Sie begann mit dem Himmel, ich mit der schneebedeckten
Spitze des Berges.
„Sollen wir zählen?“ fragte ich Hanna später.
„Ja.“
Ich holte meinen Wecker vom Nachttisch, zog ihn auf, las auf meiner
Armbanduhr 15:36, substrahierte von fünf zwei und drehte die Zeiger auf
drei Uhr sechsunddreissig.
„Du musst noch die Weckzeit einstellen“, sagte Hanna.
Also stellte ich die Weckzeit ein. Dann stellte ich den Wecker auf den
Boden, seine Beine versanken in den Haaren des Teppichs. Ich gab ein
Zeichen zum Start. Nach einer Stunde klingelte der Wecker. Wir zählten.
Hanna hatte sieben, ich vier.
Wir zählten, sooft wir am Puzzle arbeiteten. Meistens fand Hanna mehr Teile, die zusammenpassten.
„Es langweilt mich, du kannst alleine weitermachen“, sagte ich eines
Tages zu ihr. „Das versteh ich nicht, du hast soeben gewonnen“. „Es
langweilt mich trotzdem“.
Hanna kam rasch voran. Das Bild wuchs zu einer sonnenbeschienenen, herbstlichen Berglandschaft.
Eines Nachmittags, als ich von der Schule nach Hause kam, war Hanna sehr aufgeregt.
„Was hast du?“
„Zwei Teile fehlen, hast du sie gesehen?“
„Nein.“
Hanna verschwand in die Stube. Ich legte meine Schultasche ab und zog
die Jacke aus. Ich hängte sie über einen Mantel an den Kleiderständer,
worauf er umzukippen drohte. Ich fing ihn auf, stellte ihn wieder hin
und hängte die Jacke an die andere Seite. Dann suchte ich Theodora. Sie
war im Arbeitszimmer beim Bügeln von Unterhosen. Unterhosen bügeln fand
ich unnütz. Alles, was darunter lag, musste man nicht bügeln. Das sah
man ja nicht.
„Hallo Theodora.“
Sie stellte das Bügeleisen hin. Dampf stieg hoch, es zischte.
„Hallo Klara, wie war es in der Schule?“
Sie faltete die Unterhose und legte sie zu den anderen Unterhosen. Sie
nahm eine Hose aus der Zaine, stülpte sie um. Sie legte ein Bein aufs
Brett und strich es glatt. Das andere hing herab.
„Und?“
„Im Rechnen hatte ich eine Fünfeinhalb, dafür bekam ich einen Elefanten ins Heft.“
„Hat der Elefant denn Platz im Heft?“ fragte Theodora lachend. Sie fuhr
mit dem Bügeleisen auf dem Hosenbein hin und her. Das Wasser blubberte.
Mir stieg die Hitze ins Gesicht. Ich drehte mich um und ging aus dem
Zimmer. Ich suchte nach Hanna. Sie war immer noch in der Stube, wo sie
mit einer Taschenlampe unter das Klavier leuchtete. „Da unten liegt ein
Notenheft.“ „Kannst du es hervorholen?“ Sie langte unter das Klavier,
zog das Heft hervor, stand auf, blies den Staub in meine Richtung und
reichte es mir. Auf der Titelseite war ein Mädchen in orientalischer
Kleidung abgebildet, das aus einem Zelt kam. Darüber stand SALOME. Den
übermalten Namen des Komponisten konnte ich zuerst nicht lesen. Je
länger ich jedoch schaute, umso besser konnte ich den Namen erkennen.
Dieses Heft hatte ich nie vermisst. Ich musste niesen. Hanna ging zum
Sofa, kniete nieder und zog die Schublade auf. Jetzt duftete es nach
Mottenkugeln. Sie nahm die schwarze Zither heraus, die oben mit Blumen
bemalt war. Hanna zupfte an den Saiten, die sich noch nicht gelöst
hatten. Nachdem die Töne verklungen waren, schwenkte sie das Instrument
hin und her und lauschte.
„Wie sollen sie denn da hinein gekommen sein?“ fragte ich, „du suchst an seltsamen Orten.“
Sie zuckte mit den Schultern, und als sie die Zither zurücklegte, gab
diese einen Klang von sich, und als die Schublade wieder zu war, klang
sie immer noch.
„Ich helfe dir suchen.“
Ich ging ins Schlafzimmer. Die fehlenden Stellen im Puzzle bemerkte ich
sofort. Ich schob es beiseite um nachzuschauen, ob sie vielleicht
darunter lagen.
„Aber leere den Filter bitte nicht in der Küche aus“, hörte ich Theodora rufen, „bring ihn auf die Terrasse.“
Kurz darauf hörte ich Hanna ächzen. Ich schaute nach. Sie schleppte den
Staubsauger durch den Flur. Obwohl ich keine Lust dazu hatte, setzte ich meine Suche fort. Ich durchstöberte den Kleiderschrank, wühlte in
Schubladen. Dann machte ich eine Pause und ging zum Fenster. Auf dem
Platz fuhr ein rotes Auto in ein Parkfeld. Ich erkannte die Marke des
Autos sofort. Es war ein Citröën CX Pallas. Die Tür ging auf und eine
Frau stieg aus, mit einem Mantel über dem Arm. Sie öffnete die hintere
Tür, worauf ein Kind beim Aussteigen die Tür noch weiter aufstiess, bis
diese an die Plakatwand schlug. Auf dem Plakat war eine Frau mit
toupiertem, schwarzem Haar abgebildet, die eine Zigarette zwischen den
Fingern hielt. Um ihren Hals war ein Tuch mit schwarzen Punkten
gebunden. Darunter stand MARY LONG. Die andere Frau untersuchte, ob die
Tür beschädigt worden war. Anschliessend schlüpfte sie in den Mantel,
knöpfte ihn zu, band den Gürtel und stellte den Kragen hoch. Dann machte sie eine Handbewegung zum Kind hin, das sich entfernt hatte. Sie
streckte ihre Hand aus und wartete. Zusammen gingen sie Richtung Park.
Vor meinem Mund war die Fensterscheibe beschlagen. Zwischen dem
Sommerfenster und dem Winterfenster lag eine tote Wespe. Ich zog die
Vorhänge zu, trat einen Schritt zurück. Es dauerte ein Weilchen, bis
sich die schweren Gobelinvorhänge nicht mehr bewegten. In regelmässigen
Abständen waren darauf Vögel angeordnet, die auf den Ästen eines Baumes
sassen. Einige Vögel sah man von vorn, andere seitlich. Die Vorhänge an
den drei Fenstern waren zu kurz, sodass in der Nacht das Licht der
Strassenlampen ins Zimmer fiel. Unsere Mutter hatte die Vorhänge genäht. Sie hatte sie nicht etwa zu kurz genäht, sie waren nur zu heiss
gewaschen worden. Nachdem unsere Mutter verschwunden war, wurde die
Wohnung gereinigt, die Vorhänge abgenommen und gewaschen. Die Vorhänge
unseres Zimmers waren beim 60° Waschgang eingegangen.
Ich begann, den Saum des Vorhangs abzutasten. Beim dritten Saum spürte
ich plötzlich etwas zwischen den Fingern. Mit Zeigefinger und
Mittelfinger griff ich zwischen zwei Stichen in den Saum und klaubte die beiden Teile heraus. Ich ging aus dem Zimmer, lief durch den Flur, bog
in den Korridor ein und trat auf die Terrasse. Hanna kauerte auf dem
Boden, Staub auf die Schaufel kehrend. Um sie verstreut waren
Staubballen, Staubsauger, der aufgerissene Filter. Sie schaute auf. Ich
streckte ihr die beiden Teile hin. Sie stand auf, nahm sie mir aus der
Hand, umschloss sie.
„Sie waren in unserem Zimmer, im Saum des Vorhangs.“
„Dort?“ fragte sie ungläubig.
Sie sprang auf, hüpfte in die Wohnung, eilte durch den Korridor, bog in
den Flur ein, „ich hab sie!“ rief sie Theodora zu, „Gut!“ Sie rannte ins Schlafzimmer und fügte die Teile ein.
Das Bild wurde später mit einer Plastikfolie überzogen und in einem roten Rahmen über der Kühltruhe aufgehängt.