Roman Strub
2003
Turmbauten
von Roman Strub
Die vertrauten Geräusche des Reisigbesens. Er wischt, wie er es jeden Tag tut, den Boden des Himmels - das obere Ende der Welt. Seit Menschengedenken. Sein langer, weisser
Bart leicht staubig vom ewigen Fegen. Es gibt nichts sonst zu tun, gar
nichts gibt es hier. In der Antike pflegten einige hier oben noch Kämpfe durchzuführen, Liebschaften zu halten oder Bankette. Aber die sind alle schon lange tot, und der ganze Himmel ist leer. Übrig blieb einzig er
selbst, der Reisigbesen, sowie diese Unmengen von Staub. Und all das ist in eine durchdringende, allmächtige Finsternis gehüllt, die kalt ist.
Was also bleibt ihm? Was also anderes bleibt ihm, als zu warten und zu
wischen? Zu wischen und zu warten. Wischen. Warten.
Der Schweiss perlt ihm auf dem Gesicht. Er muss mauern, schleppen,
planen, mörteln. Der Erdboden ist schon weit, weit unter ihm, und er
kann nur noch Meere und Gebirge erkennen. Stockwerk um Stockwerk kämpft
er sich voran, um dieses Bauwerk zu vollenden. Die meisten seiner
Sklaven liessen ihn vor langer Zeit bereits im Stich. Einzig jene
blieben ihm, die ihm immer wieder den Aufzug beladen mit Steinen,
Mörtel, Proviant. Sein Tagebuch liess er im Stockwerk
achtzehnhundertfünfunddreissig liegen. Mit Absicht. Er hatte alles
gesagt. Deutlich erinnert er sich noch an seinen letzten Eintrag: "Wie
sind die Sonnenuntergänge wundervoll, weit oben. Aber es gilt: Niemals
innehalten, immer weitergehn. Geh weiter, immer weiter, weiter. Ein
Himmel ist zu erreichen. Die Götter will ich zur Rede stellen. Sie
sollen Rechenschaft ablegen für den unheilvollen Lauf des Schicksals!"
Warten. Warten. Er weiss, er wird kommen. Er war sich schon sicherer,
aber nichts hält die Geschichte auf. Und währenddessen wischt er. Immer
mehr Staub lagert sich hier oben ab. Staub von kaputtgegangenen
Universen, Planeten - diese Art von Arbeit, so unnütz sie auch ist, wird niemals ausgehn. Nur manchmal kommt sein langer, weisser Bart ihm in
die Quere. Man will doch nicht im Staub ersticken... Viel hat er schon
gedacht, sehr viel. In der Natur seines Wesens liegt es ja, alle
Gedanken gedacht zu haben - Jeden einzelnen, so dass nichts mehr zu
denken übrigbleibt, für den ganzen Rest der Ewigkeit. Wäre er doch
Mensch geworden. Mensch:
"Ich kann ihn wieder sehen!!!" schreit es aus seinem Mund. Den Himmel.
Noch mehr Stockwerke. Das Antliz erblicken. Die Götter. Und endlich
Schluss mit der Einsamkeit.
Wischen. Warten. Der Besen ist schon zu abgenützt. Er holt einen neuen
und wirft den alten ins Fege-Feuer, das hier ganz in der Nähe ist, und
ohne welches er schon lange erfroren wäre. - Hat er nicht etwas gehört?
Da tönte doch etwas. Es hörte sich an wie ein zerrissener Tempelvorhang. Schrill, dramatisch. - Was, was war das??? - Nichts, sehr
wahrscheinlich. Sehr, sehr wahrscheinlich. Also weiterfegen. Wenn es
bloss noch freie Gedanken gäbe. Gedanken, die noch nicht breitgetreten
worden sind.
Eine Erschöpfung göttlichen Ausmasses macht sich breit. Seit
Jahrhunderten baut er, und noch immer kein Ende. Es ist dunkel geworden, inzwischen, und eigentlich möchte er schlafen. Noch ein paar
Stockwerke. Stein um Stein, Sekunde um Sekunde, immer langsamer, aber
beständig. Weitermauern. Nein, Schlaf! Bauen; obwohl es beinahe nicht
mehr geht. Augen offenhalten. Wieviele Stockwerke hat er schon?
Weiterbauen, gegen die Müdigkeit. Mauern. Unten der Mond. Weiter,
weiter. Dieser Stein muss hierhin gesetzt werden. Ach ja, der Mörtel!
Bauen.
Er wischt und wischt. Kilometer hat er heute schon zurückgelegt, und es
gibt nur Nacht hier. Immer wieder findet er Stellen voller Staub, und
wischt, wartet. Worauf bloss? Er spürt ein zartes, fast unmerkliches
Rütteln im Boden. Aber was soll's. Er nimmt seinen Besen, um irgendwo
anders weiterzuwischen, weil es dort - was ist das? Da liegt er! Er
liegt schon da! Aber er steht daneben, und...
Er war eingeschlafen, schon lange wohl muss das her sein. Aber irgend
etwas weckt ihn. Ein Staunen. Er öffnet die Augen. Der Turm ist weg!
Sein Ziel! Er hebt den Kopf an, um sich zu orientieren, um zu schauen.
Und da steht ein Wesen. Bärtig. Er geht auf das Wesen zu, langsam, träge -
noch nie hat er so nah an sich selbst gestanden! Welch ein Gefühl! Jahrtausende zerbrechen an einer einzigen Bewegung. Aber er
ist sich nicht ganz sicher - Doch! Er ist es! Nebukadnezar steht vor
sich selbst, um Zeitalter geprellt. Das ist zuviel. Er taumelt, und
sieht, wie auch sein Gegenüber taumelt. Bewegt es seinen Kopf, tut er
dasselbe. Was um Gottes Willen ist das?
Beide rennen. Synchron. Sie bleiben stehen. Die selben Gedanken in den zwei Köpfen. Beide starren sich an, unbeweglich.
Der Untergrund wird wackelig, und sie halten sich aneinander fest. Auf
dem schwärzlichen Boden bilden sich kleine, blütenweisse
Wattebäuschchen. Nein! Beide merken, dass alles sich verwandelt! Die
Wolken! Kleine Löcher geben die Sicht frei auf den Erdboden. Ihr
Untergrund wird sanfter, weicher, sie halten sich noch immer aneinander
fest, beide starren sich an, der Boden wird zu Wolken, und sie fallen.
Aneinander geklammert rasen sie mit einer unfassbaren Geschwindigkeit
auf die Erde zu. Entfernt erkennen sie einen gelblichen Turm. Sie drehen sich im Fallen, wieder Wolken, eine immense Angst, rasen, rasen, der
Boden scheint nicht gewischt zu sein, rasen, näher, fallen, die beiden
wollen sich etwas zurufen, aber der Lärm, ist er zu Lärm gross ist das
fallen, fallen, alles rüttelt, saust, tobt in den Ohren, die Augen weit
aufgerissen, es ist ein Tor, Wasser, die Kälte, das Drehen, immer
deutlicher, die beiden verschwinden in der Tiefe, und langsam wird da
unten, unten alles deutlicher, sie können, Trieb, schon die ersten
Flüsse und alles kommt auf sie gehen tief und die Hände verdin
Der Dichter blickt auf. Sein Stoff bewegt ihn wieder einmal ins
Unermessliche - aber er bekommt ihn einfach nicht in den Griff. Noch
hört er die Schreie. Auf seinem Schreibtisch liegen Hunderte von
handgeschriebenen Seiten, alle für dieses eine Stück. Seine Weinflasche
ist leer. Lotti hat Recht. Aber irgendwie muss das doch zu packen sein!
"Friedrich," sagt er zu sich selbst, "du bist ein Tor."
Doch das reicht nicht! Ihn packt die Wut - die Wut über seine eigene
Unmächtigkeit. Er haut mit den Fäusten auf den Tisch, und flucht. Jäh
steht er auf, rafft die Manuskriptseiten zusammen, stürzt zum Cheminée
und wirft den Stoss Papier ins lodernde Feuer. Er reisst sein
Büchergestell um, und all die Werke und Bretter fallen zu Boden. Er
schreit, tobt, und schlussendlich rennt er aus dem Zimmer, vorbei an
seiner Frau, die gekommen ist, um zu schauen, was los ist, und geht
hinaus, in den Regen, und läuft stundenlang, hinüber in den Wald, wo er
sich in einer Lichtung auf einen Baumstrunk setzt und weint.